Greenpeace posiert gern als Robin Hood, dabei wäre die Rolle von Greenpeace in dieser Geschichte eher die des Sheriffs von Nottingham: den Armen nehmen, die Mittelschicht durch steigende Energiepreise und durch knebelnde Gesetze ruinieren, Deutschland durch eine falsche Energiepolitik deindustrialisieren, an die Stelle der Freiheit den Klimasozialismus setzen. Das ist kurz zusammengefasst das Interview, das der Geschäftsführende Vorstand von Greenpeace Deutschland, Martin Kaiser, der Welt gegeben hat.
Die Argumente, die Kaiser gegen die Atomkraft ins Feld führt, haben die intellektuelle Qualität von Habecks Äußerung, dass der Weiterbetrieb der noch verbliebenen drei Kernkraftwerke im kommenden Winter 2022/23 nicht helfen würde und mit „höchsten Sicherheitsbedenken“ verbunden wäre. Es geht hier – wie bei den Grünen und bei Greenpeace zu beobachten – nicht um das Wohl der Bevölkerung, sondern um Ideologie, es geht nicht um Rationalität, sondern um puren Glauben. Welche Logik dahinter steckt, Energieerzeuger abzuschalten, auf sie zu verzichten, wenn man nicht einmal weiß, wie man Energiesicherheit selbst mit ihnen gewährleisten soll, erschließt sich rational jedenfalls nicht. Null minus drei ergibt jedenfalls nicht plus 4.
Wohlweislich hatte Habeck bei seiner ominösen Vorprüfung laut Welt am Sonntag weder die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) noch die Reaktor-Sicherheitskommission (RSK) einbezogen und gefragt. Stattdessen vielleicht Greenpeace? Oder den Verband der WindEnergie? Zumindest fordert Kaiser im Interview die „schnelle Wärmewende“. Setzt sich allerdings seine und Habecks Utopie durch, erleben wir schon im Winter 22/23 eine sehr schnellere und sehr rigorose Wärmewende, nämlich die Wende von warm zu kalt. Und da Greenpeace die Menschen zu ihrem „Glück“ gern zwingen möchte, findet Kaiser, dass man jetzt ein „Ausstiegsgesetz für Öl- und Gasheizungen und einer Ausbauoffensive für Wärmepumpen, Solarthermie, grüne Wärmenetze und Gebäudedämmung“ benötigt.
Außerdem bedeutet ein Gesetz dieser Art, einen diktatorischen Eingriff in die Freiheitsrechte der Bürger vorzunehmen, aber die Freiheit steht auf Kaisers Agenda doch eher unter der Überschrift: einschränken oder abschaffen. Sie stört nur. So blitzt trotz gewundener Formulierung die Illiberalität durch, wenn er behauptet: „Zu meiner individuellen Freiheit kann es ja gehören, in meiner Mobilität nicht eingeschränkt zu werden. Das heißt aber nicht, dass ich mit meinem Benzin-betriebenen SUV in jede Ecke der Republik fahren darf.“ Will er Sonderfahrgebiete einrichten oder Mauern bauen? Zum Freiheitsbegriff von Martin Kaiser gehört es also, so sagt er es klar und deutlich, dass die Bürger nicht das Recht haben, dorthin zu fahren, wohin sie wollen. Will Martin Kaiser vorschreiben, wer wann mit welchem Fahrzeug wohin fährt? Gratulation, so weit ist nicht einmal die SED gegangen.
Kaisers Rhetorik läuft darauf hinaus, im ersten Satz etwas mit weichen und konditionalisierenden Formulierungen zuzugestehen, was im folgenden Satz knallhart aufgehoben wird. Der berechtigte Vorwurf der Interviewer, dass Greenpeace-Aktionen das Leben von Menschen gefährden, wird als Vorfall in München, als berühmter Einzelfall, als ein „Technikdefekt“ abgetan, um dann rhetorisch das große Becken zu benutzen – schließlich „weist“ Greenpeace „immer wieder sehr deutlich auf Missstände hin, weil Deutschland die Pariser Beschlüsse jahrelang nicht umsetzte.“ An der Gefährdung von Menschen sind nicht die Gefährder, sondern ist die Nichteinhaltung der Pariser Beschlüsse durch Deutschland schuld. Mit anderen Worten: Eigentlich war die Aktion richtig. Es sei schließlich die Aufgabe von Greenpeace „den Finger in die Wunde zu legen.“ Auch in die Wunden derer, die bei einer Greenpeace-Aktion Schaden an Leib und Leben nehmen könnten?
Auf die Feststellung, dass der Protest die „Falschen“ trifft – Pendler, Berufstätige, die zur Arbeit müssen –, hat Kaiser nur die Antwort parat: „Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Frage beschäftigt: Darf ein kurzzeitiger Protest auch Leute stören, die damit nichts zu tun haben? Es kam zum Schluss, dass so was möglich sein sollte in einer Demokratie.“ Aber natürlich: „Ich kann das aber im Einzelfall aus der Ferne nicht beurteilen.“ Martin Kaiser, der von Amtswegen ein Fachmann sein sollte für dieserart Aktionen, kann das also nicht beurteilen? Wenn man ihm glaubt, wäre er am falschen Platz, wenn er am richtigen Platz ist, kann man ihm nicht glauben.
Aber womöglich hat er sogar recht. Womöglich kann es ein Greenpeace-Funktionär nicht beurteilen, was es für berufstätige Menschen bedeutet, nicht pünktlich zur Arbeit zu kommen, oder was es heißt, wenn ein Rettungswagen in höchster Eile nicht zum Krankenhaus gelangt?
Offensichtlich hat Martin Kaiser seine Empathie für anderes aufgespart, denn er hofft, „dass die jungen Leute nicht gelähmt werden von der Lage – sondern in ein Handeln kommen, das ihnen und anderen Mut und Hoffnung gibt“. Was Kaiser fordert, ist „eine Transformation bei Mobilität, Landwirtschaft, Energieversorgung, beim Bauen“. Mit anderen Worten: Damit die Freiheit in Zukunft nicht „stark eingeschränkt sein“ wird, schaffen wir sie lieber gleich ab, dann brauchen wir sie später nicht einzuschränken.