Inzwischen kennt sie fast jeder in Europa: die Visegrád-Gruppe der zentraleuropäischen Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn (V4). In der Migrationskrise ab 2015 wurde dieser Block zu einem echten Machtfaktor in der EU. Politisch gab diese „Ost-EU“ den Westeuropäern oft Kontra. Unter dem Druck ihrer Argumente und Handlungen (etwa Ungarns Grenzzaun) änderte sich die europäische Migrationsdebatte. Die EU-Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen verdankt (auch) den V4 ihren Job, der ursprüngliche Spitzenkandidat Manfred Weber stolperte über seine konfrontative Haltung gegenüber den Mitteleuropäern.
Polen war und ist die stärkste Kraft in dieser Gruppe, gemessen an seinem wirtschaftlichen Gewicht und seiner Bevölkerung. Die stärkste Stimme war aber die des ungarischen Premiers Viktor Orbán.
Die Visegrád-Gruppe gewinnt als Verbund von Frontstaaten an Bedeutung
All das hat sich binnen weniger Tage geändert. Zwar ist es immer noch Mitteleuropa, das auch in dieser Krise den Ton angibt und die Debatten in der EU vorantreibt. Beispielsweise, als acht „osteuropäische” Länder forderten, die Ukraine im Eilverfahren in die EU aufzunehmen. Das EU-Parlament machte sich diese Forderung zu eigen, Kommissionsvorsitzende Ursula von der Leyen gab dazu Lippenbekenntnisse ab mit Hinweisen auf lange Verfahrenszeiten. Die Dynamik aber kam aus Mitteleuropa.
Anders als bei früheren Initiativen aus der Region war Ungarn diesmal eher unter den Nachzüglern, Polen ganz klar die Lokomotive vor dem europäischen Zug. Jenes Polen, dem die EU in der gegenwärtigen Krise Finanzmittel aus dem Covid-Hilfsfonds verweigert wegen Problemen bei der „Rechtsstaatlichkeit”. Jenes Polen, dem die EU Strafgelder von täglich 1,5 Millionen Euro aufgebrummt hat, 500.000 deswegen, weil es noch Braunkohle fördert, und eine Million, weil es ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes bezüglich seines Justizsystems nicht implementiert.
Auch in Sachen Waffenlieferungen für die Ukraine haben sich ostmitteleuropäische Staaten mit Feuereifer ins Gefecht gestürzt, Polen wollte gar Kampfjets liefern. Darauf hat man nun verzichtet, nachdem klar wurde, dass das zu riskanten Reaktionen Russlands führen kann. Ungarn hingegen will weder Waffen liefern noch Waffentransporte an die Ukraine über sein Gebiet erlauben.
Das pragmatische Ungarn verliert gegenüber dem russlandfeindlichen Polen an Gewicht
Es gab einen kurzen Augenblick, am 4. März, da schien es fast, als seien die V4 noch da als gestaltende Kraft in dieser Krise. Da hatte die EU eine Direktive vorgeschlagen, um EU-weit allen Flüchtlingen aus der EU das Aufenthaltsrecht zu geben. Vielleicht als Sorge, dieses Vorgehen könnte später ausgeweitet werden auf Flüchtlinge aus aller Herren Länder, erklärte Kanzleramtsminister Gergely Gulyás. Ungarn „und die Länder der Visegrád-Gruppe“ seien dagegen. Der Schutz, den die Flüchtlinge in Ungarn genießen, genüge vollkommen.
Verstärkt wird der Effekt durch die Tatsache, dass nach Regierungswechseln in Tschechien und in der Slowakei Orbáns politische Verbündete in jenen Ländern nicht mehr an der Macht sind. Das Bündnis war in mancher Hinsicht zuletzt zu einem polnisch-ungarischen Schutzbündnis geworden, um einander zu unterstützen gegen Rechtstaatlichkeits-Vorwürfe aus Brüssel und gegen Bestrebungen, die Kompetenzen der Nationalstaaten noch weiter zu beschneiden.
Jetzt aber tritt die große Bruchlinie zwischen Polen und Ungarn in den Vordergrund: die Haltung gegenüber Russland. Polen ist traditionell russlandfeindlich, Ungarn pragmatischer eingestellt.