Es war sicher ein befriedigender Augenblick für die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und – ein kleiner Hoffnungsmoment für die deutsche Innenministerin. Nancy Faeser sagte, es sei „ein bisschen ein Paradigmenwechsel“ und machte damit deutlich, dass sie noch nicht so ganz an die Verwirklichung ihrer Wunsch-Utopie glaubt: Das ist die gleichmäßige Verteilung von Flüchtlingen und Asylbewerbern auf alle EU-Staaten. In der Tat eine extrem unwahrscheinliche Zukunftsvision.
Doch die EU-Innenminister haben nun erstmals die Richtlinie für „massenhaften Zustrom“ aktiviert, die es den Ukraine-Flüchtlingen ermöglichen wird, ohne einen Asylantrag zu stellen, Schutz für ein, eventuell sogar drei Jahre zu erhalten. Der neue Schutztitel kann nach dem ersten Jahr um zwei weitere verlängert werden. Immerhin: Eine Arbeitserlaubnis werden die durch den Krieg vertriebenen Ukrainer damit vom ersten Tage an haben.
Geschaffen worden war diese Richtlinie einst aus Anlass der Jugoslawien-Flüchtlinge, die in den Neunzigerjahren wegen des dortigen Bürgerkriegs in die EU strömten. Die Debatten über deren Verbleib oder Rückkehr, geführt in deutschen Parlamenten, waren lang und zäh. Sie führten aber letztlich zur Rückreise einer Mehrheit der einst Geflohenen. Im Nachhinein wurde die Legende gestrickt, dass unser Rechtssystem mit der damaligen Fluchtbewegung – vor allem aus Bosnien-Herzegowina, später aus dem Kosovo – überfordert war.
Man kann die Richtlinie ihrem ganzen Charakter nach als Versuch einer Vereinheitlichung von Asylfragen in der EU ansehen. So heißt es in dem Rechtstext, es sei „erforderlich, Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen festzulegen“. Daneben will man „Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung“ der vertriebenen Menschen und der „mit ihrer Aufnahme verbundenen Belastungen“ ergreifen: „Diese Normen und Maßnahmen sind aus Gründen der Effizienz, der Kohärenz und der Solidarität sowie insbesondere zur Vermeidung von Sekundärbewegungen eng miteinander verknüpft.“
Für Nehammer geht es um Nachbarschaftshilfe – die nächste Verzeichnung?
Was die EU-Innenminister am Freitag formell beschließen wollen, ist einer Ausnahmesituation geschuldet, in der von vielen eine große Fluchtbewegung aus der Ukraine erwartet und geradezu herbeigeschrieben wird. Der Hauptteil der Flüchtlinge wird dabei von Polen, Moldau, Ungarn und der Slowakei aufgenommen, die sich allerdings weigern, Staatsangehörige von außereuropäischen Drittstaaten aufzunehmen. Das hat in der Tat eine gewisse Logik, denn die schwarzafrikanischen „Studenten“ könnten ja in ihre Heimatstaaten zurückkehren und dort in Sicherheit vor dem Ukraine-Krieg leben.
Der Linie der direkten Konfliktnachbarn schloss sich auch der österreichische Innenminister Gerhard Karner an. Karner sagte: „Wir brauchen rasche, unbürokratische Hilfe für ukrainische Kriegsflüchtlinge. Da hilft es nicht, wenn wir Drittstaatsangehörige mit einbeziehen.“ Bundeskanzler Karl Nehammer hält die Ukrainer derweil nicht für „klassische Flüchtlinge“, sondern für „Europäer, die nachbarschaftlichen Schutz benötigen“. Außenminister Alexander Schallenberg sieht bereits die EU-Muskeln spielen, weil man ein paar Sanktionspakete gegen Russland beschlossen hat, die angeblich wirken.
In Österreich waren am Donnerstag schon 11.000 jener nachbarschaftlich Schutzsuchenden angekommen, von denen aber angeblich 70 Prozent weiterreisten. In Deutschland konzentriert sich das Geschehen auf die Hauptstadt, wo immer neue Züge mit Menschen aus der Ukraine ankommen. Auch nach Deutschland dürften schon um die zehntausend eingereist sein. Das Land Berlin ist damit sicher an seine Grenzen gekommen. Doch nicht alle, die kommen, sind auch in der Ukraine geboren und besitzen dessen Staatsangehörigkeit. Auch ausländische Zuwanderer sehen offenbar ihre Chance gekommen, in ein reicheres, komfortableres Land zu wechseln, als es die für europäische Verhältnisse bitterarme Ukraine ist.
Kitschige und verwirrende Geschichten im deutschen Medienwald
Die deutschen Qualitätsmedien nehmen derweil dankbar jede noch so kitschige Geschichte auf: Da ist etwa jene weiße Ukrainerin, die angibt, während der Hochzeitsvorbereitungen mit ihrem schwarzafrikanischen Bräutigam zur Flucht gezwungen worden zu sein. Angeblich wollten die beiden „gerade“ das Aufgebot bestellen, als die Bomben auf Kiew fielen. Nun müssen sie das im deutschen Exil nachholen.
Oder der kamerunische Lagerist Ngami, der uns gestern schon in einem Bericht der Zeit auffiel, dessen ukrainische Familienverhältnisse aber auch eher nach Schein klingen: Seine ukrainische Frau will er ausgerechnet im Osten des Landes hinterlassen haben, obwohl er im westlichen Teil in Odessa lebte. Merkwürdig auch, dass er den direkten Weg nach Berlin wählte und nicht noch einmal in Dnipro vorbeischaute, um seine Angetraute und den gemeinsamen Sohn mit ins sichere Deutschland zu nehmen.
Die Ukrainer halten es derweil genau andersherum: Die wehrfähigen Männer bleiben im Land, während einige der Frauen und Kinder ins Ausland fliehen. Doch auch einige Frauen wählen für sich den Kampf und bleiben in Kiew und anderswo an der Front. Nein, lassen wir uns keinen Sand in die Augen streuen, Ngamis Geschichte und sein Auftreten (ganz nach dem Motto „ich liebe Deutschland“) gleichen genau all den anderen illegalen Einreisegeschichten, die wir aus deutschen Aufnahmezentren zur Genüge kennen. Die Wirklichkeit sieht leider oft sehr anders aus, wie aktuelle Bilder aus der Ukraine zeigen: Ein marokkanischer „Student“ entscheidet, mit einem Messer bewaffnet, wer in den Zug einsteigen darf und wer nicht. Der anscheinend maghrebinische Kommentator spricht dazu von „ethnischer Selektivität“.
Auch scheinbar konservative Medien verlieren den Kompass
Man weiß auch nicht, was neuerdings wieder in die Welt gefahren ist: Dort werden EU-Verteilungsquoten gefordert, die als „Zeitenwende“ gefeiert werden. Doch sie können nun einmal kein Konsens sein, weil sie in der Praxis nicht funktionieren, schon gar nicht als „verpflichtende Quote“: Soll man die Migranten denn in Polen oder Griechenland festbinden? Um von dem Demokratie-Defizit solcher EU-Entscheidungen zu schweigen.
In einem anderen Kommentar der Tageszeitung wird den deutschen Kommunen empfohlen, „künftig Reserven in viel größerem Umfang“ für Flüchtlinge bereitzuhalten. „Die Welt ist in Bewegung – und viele kommen zu uns.“ Aber das ist schon ein paar Jahre lang so gewesen. Es wäre wohl eher Zeit, die Aufnahmekapazitäten wieder zurückzufahren und sich auf Brot-und-Butter-Themen zu konzentrieren.
Aber geht es nach der Bundesinnenministerin werden wohl auch Ngami und seine Brüder im Geiste von der neuen Massenzustrom-Regelung profitieren können. Die neue Richtlinie mag für die Regierenden und für die ausführende Verwaltung praktisch sein, sie sollte aber nicht die eigentliche Definition der Flucht und des zeitweilig gewährten Schutzes aufweichen. Allerdings ist zu befürchten, dass sie eben das bewirken wird. Denn auf einen Schutztitel folgt hierzulande gewöhnlich der nächste, schon gar unter Rot-Grün-Gelb.