Schon ist es wieder soweit, und nur noch eine einzige Gesinnung zulässig im Chor der zulässigen Meinung. Abermillionen Putinfreunde in Deutschland tun Buße. Alle anderen haben es immer schon gewusst. Deutschland zieht gegen den Krieg in den Krieg und zieht sich schon einmal warm an, weil es bald kalt wird, wenn das russische Gas ausbleibt. Der Moralist genießt, wenn er leidet. Es muss nur für die gerechte Sache sein. Dabei spielt es keine Rolle, dass seine Moral eine ganz andere Moral ist als noch vor einer Woche.
I.
Putin erweist sich völlig überraschend als Tyrann. Es zählt nur noch die Frage, ob dieser Tyrann nur Tyrann ist oder auch noch irr. Das ist zwar irrelevant für die Ukraine, die den Überfall militärisch verlieren und politisch gewinnen wird, füllt aber viele Talkshows. Die neueste Erklärung lautet, die panische Angst vor Corona habe Putin isoliert und der Vernunft entfremdet. Das ist besonders possierlich. Dann wäre Karl Lauterbach der derzeit einzig wahre Putinfreund.
II.
Auch die, die Putin bisher schon für einen Tyrannen gehalten haben, haben ihn für einen besseren Tyrannen gehalten. Einen, fast aus ihrem Holz. Seine Macho-Marotten wurden belächelt, nicht gefürchtet. Deshalb sind sie jetzt so schockiert darüber, dass er in seiner eigenen Welt lebt. Da ihre Welt die richtige, helle, gute Welt ist, kann seine nur eine falsche, dunkle, böse sein.
III.
Gewiss ist, dass sich der Tyrann als Historiker versteht, beziehungsweise vergreift. Es gibt in der Weltgeschichte keinen Tyrannen, der nicht als Historiker aufgetreten wäre. Weil jeder, der Geschichte schreibt – es ist das wahre Motiv aller Tyrannen -, die Geschichte auch erklären muss, um sich damit selbst zu verklären. Bizarr an Putins Version ist, dass sein Geschichtsbild tief im 19. Jahrhundert fußt. Falls das verrückt ist, ist er verrückt. Aber das ist, wie gesagt, irrelevant. Relevant ist nur, dass er Europa mit den Waffen des 21. Jahrhunderts ins 19. Jahrhundert zurückbomben will.
IV.
Damals hatten viele große Staatsführer ihre Nationen ohne Rücksicht auf Verluste zusammen „gekriegt“. Napoleon Frankreich, Bismarck das deutsche Reich. Gloriose Gestalten. Wer aus ähnlichen Motiven heute Grenzen verletzt, ist dagegen von gestern. Grundregel: Zivilisierte Länder führen keinen Krieg mehr. Denn zivil ist das Gegenteil von militant. Insofern sind Kriege führende Tyrannen von gestern. Es gibt doch – siehe Xi – viel elegantere Methoden. Putins Irrsinn besteht also darin, dass er sich in der Zeit irrt. Damit ist er nicht allein auf der Welt. Siehe den militant faschistischen Islam.
V.
Selbstverständlich ist die Ukraine ein Land, in dem ausschließlich Helden wachsen. Deshalb, so die anschwellende Meinung, gehört sie in die EU. Als sei die Mitgliedschaft in der EU so etwas wie ein Friedensnobelpreis für bedrohte europäische Völker. Die Aufnahme wird als Demokratieprämie missverstanden. Auf diese Weise, es muss leider gesagt sein, würde die EU zunehmend zu einem Patientenkollektiv. In diesem Sinne hat man ja auch vor Jahren schon dem kranken Mann am Bosporus die Aufnahme versprochen. Wenn die Ukraine rasch EU-Mitglied werden sollte, und gleich auch noch Georgien und Moldawien, wäre die EU endgültig destabilisiert und Putin hätte ein weiteres Kriegsziel erreicht. Mag ja sein, dass er von einer Art Endsieg über die dekadente Demokratie träumt. Übrigens glauben immer nur Tyrannen an so etwas wie einen Endsieg. Tun wir nicht. Wir sind ja nicht irr.
VI.
Es ist immer wieder schön zu sehen, wie in Krisen die Komplexität der Welt schwindet und plötzlich alles verblüffend einfach zu erklären ist. Putin muss nur weg. Dann ist der Weg frei für die nächste Illusion. Oder wie es in einem alten ukrainischen Sprichwort heißt: Wenn die Fahnen wehen, rutscht der Verstand in die Trompete.