„Wir erleben eine Zeitenwende“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag, „und das bedeutet, die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Auch der Satz fiel: „Wir werden deutlich mehr investieren müssen in die Sicherheit unseres Landes. Um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen.“ Und dann wurde es ganz gefährlich, denn Scholz sagte: „große nationale Kraftanstrengung“.
Schon bei Angela Merkel mussten alle Alarmglocken schrillen, wenn sie „große nationale Kraftanstrengung“ intonierte. „Große nationale Kraftanstrengung“ ist die Nebelgranate für viel Lärm um nichts. Je größer die Ankündigungen, desto kleiner die Folgen, denn es geht nur um den Ankündigungseffekt.
Zu glauben, dass die SPD ihre seit Jahrzehnten Geopolitik und Militär ignorierende politische Einstellung von einem auf den anderen Tag ändern könnte, wäre nicht minder naiv, als es ihre Politik seit der Ablehnung von Helmut Schmidt durch die eigene Partei ist. Aber selbst wenn das Signal der 100 Milliarden als Symbol für eine Kehrtwende in der Verteidigungspolitik ernst gemeint wäre, würde das zu bedenken sein, was in der euphorischen Berichterstattung vernachlässigt wird.
1. Um die Bundeswehr ausrüstungstechnisch auf den Stand der Zeit zu bringen, braucht es nicht unter zehn Jahren.
2. Um die Bundeswehr, die von vielen Generälen und einer riesigen Bürokratie mehr geprägt wird als von Soldaten, in kampffähige Einheiten zu verwandeln, braucht es zwanzig Jahre.
3. Um junge Leute in ausreichender Zahl zu finden, die überhaupt kämpfen wollen, braucht es einen kompletten Zeitgeistwechsel – also locker zwei Generationen.
4. Um das möglich zu machen, braucht es vorher „nur noch” eine Grunderneuerung der zweiten Republik an Haupt und Gliedern, also „nur noch” eine „große nationale Kraftanstrengung“, eine dann tatsächlich große.
Die am Sonntag in Berlin marschierten und Montag in Köln kostümiert, sind jenes Zeitgeists, mit dem keine neue deutsche Politik gemacht werden kann.
„Aufgerufen zu dem Marsch hatte ein Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen, Umweltschutzorganisationen und Friedensgruppen”, meldete welt.de über das Ereignis Sonntag auf der Straße des 17. Juni zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor.
„Marsch” ist korrekt, denn „ein Bündnis aus Gewerkschaften, Kirchen, Initiativen, Umweltschutzorganisationen und Friedensgruppen” bedeutet eine Veranstaltung des organisierten und aus Steuermitteln bezuschussten Teils der Gesellschaft – irreführend Zivilgesellschaft genannt. Das Pendant ist Köln, wo anstelle des wegen Corona eingezäunten Rosenmontagszuges im RheinEnergie-Stadion für wenige Geladene Tausende zu einer „Friedensdemo” in der Stadt aufgerufen wurde – durch die organisierte und aus Steuermitteln bezuschusste Zivilgesellschaft.
Wer und was diesen Zeitgeist beherrscht, zeigt die Bildverbindung von Ukraine-Krieg und „Impfgegnern” – symbolüberträchtig vor dem Kölner Dom: Die Kirchen segnen schließlich schon immer alles von „Oben”. Putin lässt in Russland Demonstranten gegen seinen Ukraine-Krieg verhaften, Deutschlands Woke wollen andere als ihre Meinungen mundtot machen.
Die Herrschenden und ihre Hilfstruppen wollen mit dem Ukraine-Krieg die Chance nutzen, auf den von „Spaziergängern” gegen Impfpflicht und Corona-Maßnahmen seit bald 12 Wochen begangenen Straßen auch wieder stattzufinden. Denn die „Spaziergänger” kommen in ihrer breiten Vielfalt ganz überwiegend aus dem nicht organisierten, also freien Teil der Gesellschaft.
Die Auseinandersetzung mit dem woken Zeitgeist geht noch lange weiter – über den Krieg um die Ukraine hinaus – in Deutschland und im ganzen Westen.
Der Eintagsfliege martialischer Losungen einer sonntäglichen Bundestagsdebatte geht nur auf den Leim, wer zu Risiken und Nebenwirkungen seinen Verstand nicht befragt.
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