Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland ist seit Jahrzehnten ein schwieriges – und ein sehr wechselhaftes zugleich. Letzteres gilt auch nach Auflösung des West-Ost-Dualismus zu Beginn der 1990er Jahre. Michail Gorbatschow hatte den Nachfolger der Sowjetunion, die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten GUS, dem Westen annähern wollen, er sprach von Europa als unserem »gemeinsamen Haus«. Noch 2001 hatte Wladimir Putin im Deutschen Bundestag erklärt, Russland wolle sich enger an Europa binden. In seiner größtenteils auf Deutsch gehaltenen Rede verkündete er: »Russland ist ein freundliches europäisches Land.« Das war Putin Nummer eins – kooperativ gegenüber dem Westen. Ab 2007 folgte nach einem Stimmungswechsel im Kreml Putins konfrontative Nummer zwei. Dazu dürfte die seitens Russlands abgelehnte NATO-Osterweiterung ihren Teil beigetragen haben.
Bereits mit dem Zerbrechen der Sowjetunion traumatisiert, kratzte die Ostausdehnung der NATO zusätzlich am russischen Stolz. Vom russischen »Phantomschmerz« ist die Rede. Dieses Trauma wurde dadurch verschärft, dass sich Staaten der vormaligen Sowjetunion reihenweise dem Einfluss Russlands entzogen. Diese Entwicklung unterstreichen der Beitritt der baltischen Staaten sowie Polens, Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens zur NATO sowie das informelle Angebot einer NATO-Mitgliedschaft an Georgien und die Ukraine.
Russland sieht dies als Vertrauensbruch. Putin interpretiert die mitteleuropäische Geschichte um und beschuldigt Polen der Mitverantwortung für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom August 1939, der Hitler den Angriff auf Polen erleichterte, war seiner Ansicht nach nicht der entscheidende Faktor. Zu Hause inszeniert er Russland vermehrt als Gegenpol zum »dekadenten Westen«. In jedem Fall ist Russland in Teilen unberechenbar, gar revisionistisch geworden. Und Putin sucht verschiedentlich den Schulterschluss mit China.
Putin sucht Keile in EU und NATO zu treiben, weiß aber: »Ein Krieg gegen eine geschlossene NATO ist nicht zu gewinnen. Deshalb wird Russland weiter versuchen, die NATO und die EU zu spalten.« Das schreibt kein Geringerer als der vormalige NATO-General Klaus Naumann. (…)
Putin strebt zurück zum Weltmachtstatus auf Augenhöhe mit den USA. Das Engagement in Afrika zielt ferner auf Rohstoffe, die dort leichter abzubauen sind: Gold, Diamanten, Mangan, Chrom, Titan, Kupfer, Nickel, Aluminium. Bei passender Gelegenheit stößt Putin in ein von den USA zugelassenes Vakuum vor, als Beispiel seien Syrien und Libyen, ferner das Nordmeer genannt.
Er kann offensichtlich gut damit leben, wenn in Osteuropa Ängste beispielsweise mit der Simulation eines russischen Nuklearangriffs auf Warschau entstehen. Im Herbst 2014 ließ Putin Langstreckenbomber und Kampfjets im internationalen Luftraum über der Nord- und Ostsee, dem Schwarzen Meer und dem Atlantik kreisen. Verschiedentlich drangen russische Flieger in den schwedischen Luftraum ein und russische U-Boote in schwedische Hoheitsgewässer vor. Bei einem russischen Seemanöver im August 2019 mobilisierte er in der Ostsee über 10000 Soldaten sowie 69 Schiffe und 58 Flugzeuge. Die deutsche Marine musste dabei unbeteiligt zusehen: »Für die Eskorte vor der deutschen Küste mangelt es aber an geeigneten deutschen Einheiten.« Die Nachbarschaft Russlands soll offenbar destabilisiert werden. In dieses Gesamtbild gehören auch die Anschläge auf Regimegegner mit chemischen Kampfstoffen.
Dass mit solcher Politik auch von inneren Problemen Russlands abgelenkt werden soll, liegt auf der Hand. Islamistische Aktivitäten im Süden, die demografische Entwicklung, Auswanderung, Aids und Alkohol hinterlassen ihre Spuren. Der chinesische Bevölkerungsanteil steigt in Sibirien deutlich, ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber dem chinesischen Drachen stellt sich ein.
Wirtschaftlich befindet sich Russland seit Jahren im Rückwärtsgang, was Putin gegenüber seinem Volk mit Großmachtträumen zu überspielen versucht. Dass angesichts dieser Fakten Putin (und nebenbei sogar China) dem ZDF-Politbarometer zufolge in der deutschen Öffentlichkeit weniger Misstrauen entgegenschlägt als dem früheren US-Präsidenten Trump, ist schon erstaunlich.
Dazu passt, dass laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov vom Juli 2019 55 Prozent der Deutschen wollen, dass Europa sich zukünftig ohne Hilfe der USA verteidigt. 48 Prozent befürworten einen teilweisen oder vollständigen Abzug der US-Truppen aus Deutschland. Ende 2019 ergab eine Umfrage des PEW Research Center (Sitz in Washington): 66 Prozent der Deutschen wünschen sich eher bessere Beziehungen zu Russland als zu den USA. Der Welt-Journalist Jacques Schuster schreibt gar, dass bei Russland der Verstand vieler Deutscher aussetze. Dessen Kollege Clemens Wergin macht sich Gedanken über den »seltsamen Russland-Tick der Deutschen« und deren »sicherheitspolitischen Analphabetismus«.
Der Vermischung von Wunschdenken und Fakten widerstehen in Deutschland weder Regierung noch Medien. Der ehemalige tschechische Außenminister Karel Schwarzenberg (2007–2009 und 2010–2013) hat die Äquidistanz der Deutschen zu Russland und den USA wie folgt auf den Punkt gebracht: »Russland kann besetzen oder erobern, wen oder was es will, in Deutschland wird es immer Leute finden, die dafür Verständnis haben.«
Um die im Buch enthaltenen Fußnoten bereinigter und leicht gekürzter Auszug aus:
Richard Drexl/Josef Kraus, Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr in der Krise. Komplett überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe von 2021, Edition Tichys Einblick im FBV, Hardcover, 288 Seiten, 22,99 €.