Ungarn hat Truppen an die Grenze zur Ukraine verlegt. Verteidigungsminister István Benkő sagte dazu, Ungarn müsse sich auf Flüchtlingeströme aus der Ukraine vorbereiten, aber auch die Grenze verteidigen können, falls sich die Kampfhandlungen in der Ukraine auf den westlichen Teil des Landes ausweiten. Jenseits der Grenze leben bis zu 150.000 Ungarn, vor allem an sie denkt man.
Die Entwicklung ist eine Erinnerung daran, welche EU-Länder im Krieg zwischen Russland und der Ukraine die Hauptlast tragen werden: die Grenzstaaten Polen und Ungarn. Auch die Slowakei und Rumänien grenzen an die Ukraine, aber die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass auch in Friedenszeiten viele Ukrainer nach Polen gehen, um zu arbeiten, und viele ukrainische Magyaren nach Ungarn. Auf Polen und Ungarn also kommt das größte Problem zu. Aber die EU behandelt diese beiden Länder, als seien sie selbst das größte Problem.
An den oft bemühten „europäischen Werten” kann es nicht liegen: Ratspräsident Charles Michel sagte im vergangenen Jahr, eine Finanzierung von Grenzzäunen durch die EU sei „rechtlich möglich“. (Als Ungarns Regierungschef Viktor Orbán einst finanzielle Solidarität aus Brüssel einforderte in Sachen Grenzzaun, bekam er einen Brief des damaligen Kommissionsvorsitzenden Jean-Claude Juncker: Solidarität sei keine Einbahnstraße.)
Es war ein wenig, als würde die EU direkt von (Weiß)-Russland angegriffen, müsse aber vor dem Versuch einer Gegenwehr erstmal den zuständigen Ombudsman fragen.
Jetzt also die Ukraine-Krise. Kein Land in der EU ist entschlossener, den Russen die Stirn zu bieten, als Polen. Das Land hat eine der schlagkräftigsten Armeen des Kontinents. Aber die EU, nachdem sie Polen mit den Kosten für den Grenzzaun im Stich ließ, hält auch die Gelder zurück, die dem Land aus dem Covid-Hilfsfonds zustehen. Grund: Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit.
Ungarn wird so behandelt wie Polen: kein Geld für den Grenzzaun, keine Covid-Gelder, Drohung eines Entzugs der Kohäsionsgelder. Allerdings gibt es hier kein Urteil des Europäischen Gerichtshofes und auch keine Entscheidung des Europäischen Rates nach Artikel 7 des Lissabonner Vertrags, dass in Ungarn der Rechtstaat gefährdet sei. Die Kommission hält die Covid-Gelder dennoch zurück, ohne konkret zu sagen, was Ungarn tun soll, um die Blockade aufzuheben.
Während Polen zutiefst antirussisch ist, gilt Ungarn als das EU-Land mit den besten Beziehungen zu Moskau. Es bietet Putin eine Bühne in der EU. Russische Firmen modernisieren Ungarns Atomkraftwerk in Paks, eine Jahrhundertinvestition. Kritiker nennen Ungarn gar Putins „trojanisches Pferd” in der EU. Allerdings zeigt sich die Budapester Regierung in der jetzigen Situation vollkommen loyal und schließt sich der gemeinsamen Brüsseler Linie an.
Putin betreibt eine Agressionspolitik, die letztlich auch gegen die EU gerichtet ist. Polen ist der verlässlichste Partner gegen Russland, Ungarn vielleicht etwas zu freundlich gegenüber Moskau. Wenn all das so ist, kann es dann im Interesse Europas sein, die Entfremdung dieser beiden Länder von der EU Jahr für Jahr zu vertiefen? Müsste im Interesse aller nicht vielmehr alles getan werden, um rasch einen Modus Vivendi mit Warschau und Budapest zu finden und sich mit ihnen zu vertragen?
Viktor Orbáns Chefberater und Namensvetter Balázs Orbán sieht das so: Ein Teil der europäischen Eliten sei voll darauf fokussiert, andersdenkende Mitgliedsländer ideologisch auf Linie zu bringen. Hingegen beschäftige man sich kaum mit Fragen wie „Geopolitik, Stärkung der Wehrkraft, Energiemarkt oder Wettbewerbsfähigkeit“. Man müsse „sofort mit dieser politischen Richtung aufhören, sonst ist Europas Talfahrt in die Bedeutungslosigkeit nicht mehr aufzuhalten“.
Man kann es auch anders sagen: Realität ist wichtiger als Rechthaberei.