Es ist wie ein Bild aus längst vergangener Zeit. Wladimir Putin sitzt in seinem Büro – neben ihm drei elfenbeinfarbene Telefone mit einem Dickicht aus Spiralkabeln, die ihre besten Tage längst hinter sich haben. Im Staatsfernsehen doziert er am Montag vor einer Kulisse in Sowjet-Optik anderthalb Stunden lang über Lenin, Stalin und Peter den Großen.
Die Unabhängigkeit der Ukraine als solche sei ein „Fehler“ gewesen, so Putin. Für die Ukraine sei es seit dem Zerfall der UdSSR nur noch bergab gegangen. Er kommt ins Schwärmen. Etwa vom legendären (ukrainisch-)sowjetischen Flugzeugbauer Antonow. Einst Speerspitze der sowjetischen Ingenieurskunst, Konstrukteur der Mrija (zu Deutsch „Traum“), des bis heute größten Flugzeugs der Welt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte sich Antonow kaum am internationalen Markt behaupten und entwickelte seit 1990 kein Flugzeug mehr für den Serienbetrieb. Für Putin ist das Ausdruck der mangelnden Überlebensfähigkeit der Ukraine für sich alleine. Der Traum von der alten Größe ist jedenfalls Putins zentrales rhetorisches Motiv.
Nach den langen historischen Ausführungen lässt er schließlich die (schon vorher bekannte) Bombe platzen: Russland erkennt die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk an. Später wird bekannt, dass Truppen nun auch offiziell in die Ostukraine vordringen werden. Wo sie stoppen – das ist die große Frage.
Die Frage ist nur auch: Was hindert Putin jetzt daran, aufs Ganze zu gehen?
Während Putin spricht wie ein Staatsmann des 20. Jahrhunderts, mit dem Blick eines kalten Kriegers, antwortet der Westen in drei Absätzen hilflos, zu finden auf der Website der Bundesregierung. Macron, Scholz und Biden haben telefoniert.
Putins Vorgehen sei ein „Bruch des Minsker Abkommens“. „Deutschland, Frankreich und die USA verurteilten die Entscheidung des russischen Präsidenten scharf“, heißt es da nach dem Formulierungsbaukasten, der normalerweise seine Anwendung findet, wenn wieder einmal ein Konflikt im Nahen oder Mittleren Osten kommentiert werden muss, ohne dass man sich die Hände schmutzig machen will.
Weiter heißt es: „Der Bundeskanzler, der US-Präsident und der französische Präsident erklärten sich solidarisch mit der Ukraine und würdigten die bislang zurückhaltende Reaktion, die die Ukraine unter Führung von Präsident Wolodymyr Selensky unter Beweis gestellt hat.“
Das Lob auf die „Zurückhaltung“ der Ukraine wirkt dabei mehr wie eine Entschuldigung. Denn die Ukraine von sich aus wäre verständlicherweise kaum an Zurückhaltung interessiert gewesen.
Die Zurückhaltung ist von Nordamerika und EU-Europa vorgegeben. Das maximale, das unsere Bundesregierung beizutragen hat, ist widerwillig und auf Druck zu erklären, dass Nordstream 2 zu Ende sei, wenn Putin in der Ukraine einmarschiere. Und Minsk sei gescheitert – zwei Leichen werden also erneut beerdigt. Das dürfte Moskau kaum beeindrucken.
Aus Washington warnt man seit Wochen lakonisch vor dem morgen aber ganz sicher bevorstehenden russischen Angriff, ohne dass man sich irgendwie anschicken würde, etwas zu unternehmen. Biden sinniert über Sanktionen, während sein Außenminister Putin gar anbietet, die Nato-Truppenpräsenz im Osten zu reduzieren. In Brüssel meint man, man könne dem russischen Präsidenten, seit 20 Jahren Herrscher des größten Landes der Erde, mit ein paar Wirtschaftssanktionen in irgendeiner Form beeindrucken. Dabei ist es doch Europa, das viel unmittelbarer abhängig ist vom russischen Gas als andersherum.
Als Putin dann vor ein paar Tagen ankündigte, er würde seine Truppen jetzt abziehen, jubelt in Deutschland die Presse, Saskia Esken lobt den angeblichen Erfolg der „Krisendiplomatie“ der Ampel-Regierung. Sieben Tage ist dieser angebliche Erfolg nun her. Deutschland ist nur noch ein Witz.
Der Westen lieferte keine Drohkulisse, sondern einen Freifahrtsschein. Es ist so, als wenn Putin angetreten wäre, um mit den Säbeln zu rasseln, nur dass der Gegner den Säbel nicht nur nicht zückte, sondern in den Fluss warf. Warum sollte er jetzt auch nicht angreifen?
Putin will nicht gewinnen, sondern siegen
Er hat äußerst klar gemacht, was er im Schilde führt, über Wochen. Man kann Putin nicht vorwefen, er habe seine Pläne verschleiert. Kein Mensch lässt 150.000 Soldaten teils aus den entlegensten Ecken Sibiriens zusammenziehen, um dann einfach nichts zu tun.
Man sollte nicht den General vom Schreibtisch aus spielen, wie mancher den Nationaltrainer von der Couch aus berät. Ich weiß nicht, was Biden, Scholz & Co. jetzt tun sollten. Wahrscheinlich ist es ohnehin zu spät, etwas Sinnvolles zu tun. Aber dass es soweit gekommen ist, das kommt nicht von ungefähr.
Biden behauptete vor seiner Wahl einmal „Wladimir Putin will nicht, dass ich Präsident werde. […] Wenn ihr euch fragt warum – es ist weil ich die einzige Person bin, der ihm auf Augenhöhe begegnen kann“. Trump galt als putinhörig.
Doch das Gegenteil ist richtig: Für Putin & Co. gibt es keinen größeren Glücksfall als die historisch schwache Präsidentschaft Bidens.
Biden in Washington, Scholz in Berlin, Macron in Paris und Ursula von der Leyen in Brüssel haben ihr Handlungsmuster der Welt nur allzu klar demonstriert. Viele Worte, viele Floskeln, im Zweifel ein tiefer Griff in die Geldtasche zur Besänftigung – aber Taten nie, Mut keiner.
Wladimir Putin denkt in den Kategorien des KGB, Europa in den Kategorien des FFP2-Masken kontrollierenden Ordnungsamtes.
Warum traut sich Putin, so weit zu gehen, warum gerade jetzt, warum mit diesem Aufgebot? Weil er sehen kann, dass er damit durchkommen wird. Der Fall von Kabul hat Autokraten weltweit Auftrieb verliehen, die Schwäche des Westens wird von Tag zu Tag offensichtlicher. Drohungen aus dem Munde von Joe Biden verfliegen, egal wie viele Atomwaffen dahinter stehen. Die Führer der freien Welt entlarven sich mehr und mehr als Pappfiguren.
Und so lassen wir wieder ein Land im Stich, das unseren Schutz verdient hat – verdient, nicht wegen irgendwelcher herbeiphantasierter geopolitischer Interessen. Bei all den Debatten um die russischen Sicherheitsinteressen, die Nato-Stärke oder -Schwäche, die Pläne Putins und die Fehler der USA wird eines vergessen: Boden dieses Konflikts ist nicht das Oval Office und auch nicht der Kreml, sondern die Ukraine. Ein stolzes Land, ein armes Land, ein Land, das mehr als genug gelitten hat. Ein Land, das einen weiten Weg vor sich hat, bis es Teil des Westens wird – aber es hat den Willen dazu, das ist spätestens seit dem Maidan klar. Wer sind wir, dass wir Länder nicht mehr auf ihrem Weg in die Freiheit schützen, dass wir diejenigen, die uns um Hilfe bitten, einfach vor die Hunde gehen lassen?
Wieder lässt der Westen seine Freunde hängen, genau wie zuvor die Kurden, dann die wenigen demokratischen Kräfte in Afghanistan. Man sollte sich nur über eines nicht hinwegtäuschen. Wir können die Sprache des kalten Krieges solange für ewig gestrig und verstaubt halten, wie wir wollen: Aber auch im Jahr 2022 wird der Fall eines Domino-Steins den Fall eines weiteren Steins nach sich ziehen.
Es geht um diese Symbole. Es geht Putin nicht darum, dieses oder jenes zu gewinnen, er will siegen. Vor den Augen der Welt und vor allem vor den Augen Russlands. Und er wird den Westen demütigen.
Der Traum von der Restauration wird sich für Putin dennoch nicht realisieren lassen. Die Mrija wurde nur ein einziges Mal gebaut und bleibt ein einsamer Riese am Himmel der Vergangenheit, genau wie Putin selbst.
Nur droht dem Westen, dass auch sein Schicksal ein ähnliches wird – dass auch er bald als Supermacht von gestern wahrgenommen wird, aufgepumpt mit Erinnerungen an längst vergangene Heldentage. Für diese Entwicklung haben wir uns jedenfalls die passenden Anführer gewählt.