Die prorussischen Separatisten in der Ostukraine haben die Evakuierung von bis zu 700.000 Personen nach Russland angekündigt und mit ihr begonnen, berichtet ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz. Er hat die Bilder von der Ankunft der ersten in Rostow am Don gesehen. Putin, weiß Wehrschütz zu berichten, hat jedem ankommenden Evakuierten 10.000 Rubel an Hilfe versprochen. Der Einsatz von russischen Soldaten in der Ukraine, erklärte Wehrschütz in einem anderen ORF-Beitrag, ist anders als auf der Krim in Russland unpopulär. Deshalb wertet Wehrschütz die Evakuierungsoperation als Popularisierungsmaßnahme, die dazu dienen könnte, den Russen eine militärische Operation zur Verhinderung einer humanitären Katastrophe schmackhaft zu machen.
So distanziert ich westliche Geheimdienstnachrichten von einem bevorstehenden Krieg Russlands gegen die Ukraine sehe, die Joe Biden und andere verkünden, Christian Wehrschütz, einen der letzten Journalisten mit unabhängigem Urteil nehme ich sehr ernst. Nicht in seinem eingangs zitierten Statement in ZIB1 des ORF, sondern in einer anderen Schilderung in ORF III aktuell gestern fiel mir eine Überlegung von Wehrschütz auf, die ich hier wiedergeben will. Ich fand sie eingebettet in einen Bericht auf kleinezeitung.at und kann sie in der Mediathek des ORF nicht wiederfinden, was aber an mir liegen kann.
Nachdem Wehrschütz daran erinnert, dass so etwas wie Krieg in der Ostukraine seit acht Jahren Alltag ist, erklärt der erprobte Journalist, warum er meint, dass Putin sich mit seiner Politik in der Ukraine verkalkuliert hat. Solange die russisch bewohnten Gebiete im Osten und auf der Krim an Wahlen und öffentlicher Meinungsbildung in der Ukraine teilnahmen, konnte sich Putin darauf verlassen, dass es keine Mehrheiten für ein Wechseln der Ukraine in den politischen Westen geben würde. Ohne die Krim und vor allem ohne den Donbas hat Putin dieses Pfand aus der Hand gegeben (ca. fünf Millionen Stimmen).
Gleichzeitig sind die zwei breiten Landstreifen an der 450 km langen Grenze zwischen den abtrünnigen Gebieten auf beiden Seiten zerstört und – bis auf die alten Leute, die bleiben, weil sie keine Alternative haben – entvölkert. Mit dem Donbas hat Putin nicht die einst mächtige Industieregion gewonnen, sondern sich einen riesigen Zuschussbedarf an den Hals geholt. Zu Amtszeiten von Putin dürfte das nicht reparierbar sein.
Während bild.de mit reißerischem Titel von der Tötung eines ukrainischen Soldaten durch russisches Schrapnell, von Separatisten abgefeuert, berichtet, konnte Wehrschütz bei seinem Statement, drei Kilometer von der Front entfernt, die Abschussgeräusche von ukrainischer Artillerie hören. Kleinezeitung.de meldet:
„Im Konfliktgebiet in der Ostukraine sind die Angriffe in der Nacht auf Samstag nach Darstellung der Separatisten und der Regierungsarmee fortgesetzt worden. Die Separatisten riefen zudem zu einer ‚Generalmobilmachung‘ auf. Der Chef der Aufständischen im Gebiet Donezk, Denis Puschilin, schrieb im Nachrichtenkanal Telegram, er habe ein entsprechendes Dekret unterzeichnet. Auch im Gebiet Luhansk gab es einen derartigen Appell. Es soll zudem zum ersten Todesopfer gekommen sein.“
Wehrschütz sagte nicht, was ich mir aber selbst vorstellen kann, wenn ich mir seine vielen Kommentare zur alten Konfliktregion zwischen Litauen und Ukraine und solche von anderen Kundigen vor Augen halte, vor allem auch von alten Freunden, die Russland sehr gut kennen: Möglicherweise sucht Putin in diesen Wochen einen Weg aus der selbst gebauten Falle, in die er sich im Donbas gebracht hat. Und wahrscheinlich geht Putin dabei genau so unüberlegt vor wie zu Beginn auch: Taktik statt Strategie. Leider muss ich davon ausgehen, dass die möglichen Handlungen von westlicher Seite keinen Deut überlegter sein werden.
Dass es dabei auf deutsche Politik nicht ankommt, deren Handeln ohnedies nur aus Reden besteht, ist eine Protokollnotiz, weil gerade die sogenannte Sicherheitskonferenz in München stattfindet.
Dem Westen gegenüber hat sich Putin nicht verkalkuliert. Was auch immer Putin in der Ukraine tun wird oder nicht, eines hat er jetzt schon erreicht: Der Westen hat seine Pläne, die Ukraine in die EU und/oder die Nato zu holen, mindestens vertagt, wenn nicht aufgegeben. Aber das neue Ost-West-Spiel findet sowieso nicht mehr in Europa statt.