Über keinen Tisch ist zuletzt mehr geschrieben worden als über das ovale Monstrum im Kreml. Trotzdem ist dazu noch längst nicht alles gesagt. (Jedenfalls nicht von mir.)
I.
Das Raubtier reißt die Beute und frisst. Der Raubmensch bereitet es erst zu. Dann setzt er sich an den Tisch. Zu diesem Zweck hat er ihn erfunden und Tischsitten entwickelt. Lange genügte dazu ein Felsblock. Auf ihm wurde das Opfertier auch geschlachtet. Priester waren zugleich Schlachter. Auch der absolute Herrscher ist nichts anderes als ein Räuber, der sich als Diener einer höheren Macht gibt, als Hohepriester. Tischsitten: Er setzt sich mit seinen Opfern zu Tisch. Die Entwicklung der Tischsitten ist ein seit Jahrtausenden währender Prozess der Verfeinerung. Auch Macht wird heute subtiler ausgeübt, bleibt aber was sie ist: Ritualisierung eines Raubzugs. Der gewaltige blanke Tisch im Kreml ist ein Symbol gewaltiger, blanker Macht.
II.
Ein Tisch erhält seine Bedeutung erst durch die Art seiner Verwendung. Der Kreml-tisch ist – abgesehen von einem lächerlichen Gesteck – leer. Eigentlich ist ein Tisch, auf dem nichts liegt oder steht, nutzlos. Auf einen leeren Tisch kann man schlagen. Über einen leeren Tisch lässt sich der Schwächere/Dümmere ziehen. Das Symbol des leeren Riesentisches demonstriert: Sie haben sich nichts zu sagen, sitzen einander in maximaler Distanz gegenüber. Dieser Tisch verbindet nicht, er trennt. Um das zu zeigen, ist er da. Obwohl die beiden Enden des Tisches gleich sind, sieht es nach einer Tischordnung aus, die einen Rangunterschied darstellt. Putin thront am Kopf. Scholz, aber auch Macron wirken so, als ließen sie sich von dem Möbelstück einschüchtern. Auf diesen Effekt kam es dem Tischherrn vermutlich an.
III.
Insofern ist es sinnlos, über Stil zu reden. Der Tisch ist stillos im doppelten Sinn. Er gehört keinem bekannten Stil an. Vorschlag für Kunsthistoriker: postpompösianisch putinesk. Mit seinen drei unproportional dicken Stützen – von schlanken Säulen umgebene fette Säulentrommeln – ist er einfach nur geschmacklos. Er schreckt ab. Um Abschreckung geht es. Dabei könnte Stil nur stören.
IV.
Je größer ein Tisch ist, desto größer auch seine Symbolkraft als Machtinstrument. Im James-Bond-Film „Der Spion, der mich liebte“ (1977) wird das satirisch übertrieben. Dem Bösewicht Stromberg (Curd Jürgens) sitzt einen gefühlten halben Kilometer entfernt 007 (Roger Moore) gegenüber. Unter der Tischplatte ist ein Schussapparat mit einem Lauf befestigt, so lang wie der Tisch. Durch dieses Rohr in Gegenrichtung erschießt Bond seinen Widersacher. Der Kremltisch würde gut in einen Bond-Film passen. Auch er ist ein Duelltisch. Der Zuschauer nimmt selbstverständlich an, dass auch mit ihm tödliche Tricks möglich sind.
V.
Glaubt man den kremologischen Möbelexperten, ist der Hauptgrund für die Benutzung dieses Tisches jedoch die Angst des Tischherrn vor Ansteckung. Politologen und Historiker untersuchen meist nur die Angst vor Diktatoren und unterschätzen die Angst von Diktatoren. Ängste machen ihnen das Leben schwer. Ja, eigentlich macht sie erst ihre Angst zu wirklichen Tyrannen. Unter jedem Tisch vermuten sie Verräter. Ihr Verhalten ist paranoid. Es ist in der Weltgeschichte kein einziger Tyrann bekannt, der nicht unter Verfolgungswahn gelitten hat, alle haben ihre Gegner aus nichtigen Gründen beseitigt oder eingesperrt. Wer Angst hat, verbreitet Angst – wenn man ihn lässt.
VI.
Jetzt wird es interessant. Tyrannen besitzen offenbar eine Grunddisposition für Angst. Sonst würden sie nicht vor dem Covid-Virus noch weit mehr Angst haben als die meisten ihrer Untertanen. Alle anderen Ängste lassen sich verbergen. Die Angst vor Covid nicht. Das gilt auch für demokratisch gewählte Herrscher. Die Bundeskanzlerin hat geradezu gezittert aus Angst vor Corona. Deshalb tendierte sie zum No-Covid-Regime. Meine These lautet: Je größer das Angstpotenzial von Mächtigen, desto größer ist ihr Unterdrückungspotenzial. Insofern erzwingt die Pandemie die Wahrheit über das Maß autoritärer Gesinnung. Die Wahrheit liegt auf dem Tisch.
VII.
Was also kommt zuerst: die Angst des Tyrannen oder die Tyrannei der Angst?