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Putin und Erdogan nicht allein in Kurdistan

USA: Kehrtwende in der Syrienpolitik – IS-Chef tot

Dass die USA von ihrer Aktion die NATO vorab nicht informierte, erinnert an das Vorgehen Obamas gegen Osama bin Laden, der in seinem pakistanischen Wohnsitz getötet wurde, ohne dass die angeblichen US-Verbündeten in Islamabad an der Aktion in irgendeiner Weise beteiligt oder darüber informiert waren.

US-Präsident Joe Biden informiert darüber, dass während eines US-Überfalls im Nordwesten Syriens der IS-Führer Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurayshi getötet wurde, 3. Februar 2022, Washington, DC, USA

IMAGO / ZUMA Wire

Hatte Donald Trump bereits den Rückzug der USA aus Syrien veranlasst, so kommt nun die Rolle rückwärts. Joe Biden ließ am Donnerstagnachmittag offiziell wissen: „Wir werden die Zusammenarbeit mit den SDF und der kurdischen Pechmerga fortsetzen.“ Dem Statement vorangegangen war eine Blitzaktion, die den Chef des Islamischen Staats treffen sollte, sowie der Versuch des IS, das Hauptgefängnis für IS-Gefangene im kurdischen Nordsyrien zu stürmen.

Über eine Woche Kampf um ein Gefängnis

Der Konflikt in Syrien ist in Europa angesichts der Corona-Hysterie und der Entwicklung um die Ukraine in den Hintergrund geraten. Das ändert nichts daran, dass er dennoch unvermindert fortgesetzt wird. So kam es in der letzten Januarwoche unerwartet zu einer massiven Aktion der islamischen Terroristen gegen die nordsyrische Stadt Al-Hasakah. Dort unterhalten die Syrian Democratic Forces (SDF) aus Arabern und Kurden seit Jahren das größte Gefängnis der Region, in dem die Kurden die Gefangenen aus den Reihen des IS sichern und damit auch deren Versuche, in die westlichen Staaten einzusickern, unterbinden. Mit ihrer Aktion ließen die bereits totgesagten Radikalmuslime wissen: Wir sind noch da!

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Das Gefängnis von Hasakah war ein naheliegendes Top-Ziel für die Islam-Extremisten. Die Kämpfe, die über eine Woche dauerten, forderten nach unterschiedlichen Angaben zwischen 330 und 380 Opfer. Neben mehreren Zivilisten betrauern die Kurden 120 Opfer: Reguläre Kämpfer der SDF ebenso wie Gefängnispersonal, die im Zuge der Kämpfe ihr Leben ließen. Rund 200 oder mehr weitere Tote sollen aus den Reihen des IS stammen: vorübergehend befreite Gefangene ebenso wie Angreifer.

Noch während die Kurden die gut koordinierten Angriffe zur Befreiung der gefangenen Terroristen abwehrten, startete die Türkei, die dauerhaft und völkerrechtswidrig kurdisch-syrische Gebiete besetzt hält, Luftangriffe und Artilleriebeschuss kurdischer Städte und Stellungen rund um die umkämpfte Stadt, verstärkte diese sogar noch, nachdem das SDF-Kommando mitteilte, die Befreiungsattacke sei abgewehrt.

Nächtliche Aktivitäten zwischen Kobane und Idlib

Währenddessen meldeten Beobachter Ungewöhnliches nahe der syrisch-kurdischen Stadt Kobane. Nachdem die Aktivitäten der USA in Nordsyrien als beendet galten, konnte nun nahe der türkischen Grenze intensiver Luftverkehr amerikanischer Helikopter beobachtet werden. Gegen 21.00 Uhr in der Nacht auf den Donnerstag wurde im Nordwesten Syriens ein koordinierter Hubschrauberanflug und Drohneneinsatz in der Region zwischen dem türkisch besetzten Afrin und der letzten Hochburg der islamischen Separatisten Syriens, der Stadt Idlib, mitgeteilt.

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Es waren die Amerikaner, die offenbar in enger Zusammenarbeit mit den kurdisch-syrischen SDF einen Kommandoeinsatz gegen den unmittelbar an der Grenze zur Türkei liegenden Ort Atma flogen. Ziel des Einsatzes: Der aktuelle Chef des Islamischen Staats, Abu Ibrahim al-Hashimi al-Quraishi, auch Haji Abdullah Qardash genannt. Abu Ibrahim hatte die Nachfolge des Ibrahim Awad Ibrahim al-Badri „al Bagdadi“ angetreten, der sich nach US-Angaben im Oktober 2019 im Rahmen der US-Operation „Kayla Mueller“ selbst in die Luft gesprengt hatte.

Der Einsatz gegen dessen Nachfolger soll zwei Stunden gedauert haben. Angesichts der Aussichtslosigkeit seiner Situation zog auch Abu Ibrahim den Weg seines Vorgängers vor und sprengte sich gemeinsam mit seinen vier Frauen und den Kindern in die Luft. Die Amerikaner hatten bei dem Einsatz keine Personenverluste, mussten aber einen ihrer Hubschrauber wegen eines technischen Defekts zerstört zurücklassen.

Ein Einsatz vorbei an Erdogan

Besonders pikant an dem Einsatz: Atma liegt genau an der Grenze zwischen der türkisch besetzten Afrin-Region und Idlib, dem letzten Rückzugsort der Rebellen gegen Syriens Staatschef Assad. Um die Islamkämpfer gegen den Zugriff durch die syrisch-russische Koalition zu schützen, hat der türkische Präsident faktisch auch diese Region unter seine Kontrolle gebracht und mit den Russen eine Art Stillhalteabkommen geschlossen. Das allerdings hindert Russen wie Syrer nicht, regelmäßig vor allem im Süden der Rebellenregion Luftangriffe und Artillerieattacken zu befehlen – und es hindert die Türken nicht, in den von ihnen besetzten Gebieten und darüber hinaus Jagd auf Kurden zu machen.

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Die Tatsache, dass der IS-Chef in dieser türkisch kontrollierten Region mit seiner Familie leben konnte, spricht insofern Bände und belegt einmal mehr, dass Erdogan offensichtlich mit den Islamterroristen eng zusammenarbeitet. Entsprechende Vorwürfe wurden schon früher erhoben und unter anderem durch heimliche Waffenlieferungen und die Krankenversorgung der Islamterroristen gestützt. Auch ist es kaum vorstellbar, dass der wegen seiner Effizienz gefürchtete türkische Geheimdienst von der Anwesenheit des IS-Chefs nicht gewusst haben soll – und es ist bezeichnend, dass die USA ihre Aktion durchgeführt haben, ohne die NATO oder etwa gar die Türkei vorab zu informieren. Das alles erinnert prägnant an jenes Vorgehen Obamas gegen Osama bin Laden, der in seinem pakistanischen Wohnsitz mit seiner Familie getötet worden war, ohne dass die angeblichen US-Verbündeten in Islamabad an der Aktion in irgendeiner Weise beteiligt oder darüber informiert waren.
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Nicht nur diese US-Aktion kann dem Sultan in Ankara folglich nicht gefallen. Während US-Außenminister Antony Blinken am späten Nachmittag des Donnerstags den großen Erfolg der Aktion feierte, ließ Präsident Joe Biden wissen, dass nunmehr die Kooperation mit den SDF und der Peshmerga fortgesetzt wird. Die Peshmerga stellt die militärischen Einheiten der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten des Irak. Die SDF wiederum wird maßgeblich von den Kurdischen Selbstverteidigungskräften in Nordsyrien gestellt, die in der Türkei wegen ihrer angeblichen Nähe zur PKK als Terroristen gelten. Wenn die USA nun erneut die enge Kooperation mit den syrischen Kurden unterstreichen – und die Kurden selbst die Anti-IS-Aktion als „gemeinsamen Erfolg der Koalition“ feiern, nimmt dieses auch unmittelbaren Einfluss auf die Rolle des Türken in Syrien.

Und noch jemandem kann das neue Engagement der USA nicht gefallen: dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der hatte sich zuletzt als einzige nicht-regionale Ordnungsmacht in der Region eingerichtet. Offenbar wird er jetzt jedoch wieder mit dem Faktor USA rechnen müssen. Ob das US-Engagement auch als unmittelbare Reaktion auf die Aggressivität Moskaus in Europa zu verstehen ist, kann gegenwärtig nur spekuliert werden. Das Timing allerdings würde passen – und die US-Anwesenheit in Syrien bindet russische Kräfte, sollte tatsächlich ein russischer Angriff gegen die Ukraine vorgenommen werden.

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