„Kundschafter des Friedens“ – so nannte die DDR ihre zahlreichen Informanten in der alten Bundesrepublik. Sie saßen in Parteien, Gewerkschaften, Protestbewegungen und sogar in den Kirchen. Etwa die Hälfte von ihnen gehörte zum Apparat der Hauptverwaltung A (HVA), der Spionageabteilung des Staatssicherheitsdienstes. Herr dieser größten Diensteinheit der Stasi war jahrzehntelang Markus Wolf – bis dieser sich 1986 überraschend zurückzog und die Leitung an Werner Großmann übergab.
Mit seinem schillernden Vorgänger hatte der letzte Spionagechef der DDR indes nur wenig gemein: Nicht in Moskau hatte er seine Kindheit verbracht, sondern in dem sächsischen Nest Oberebenheit. Sein Vater war auch kein berühmter jüdisch-kommunistischer Schriftsteller, sondern einfacher Zimmermann. Und statt intellektuellem Charme besaß Werner Großmann die spröde Ausstrahlung eines Apparatschiks.
Großmanns Werdegang war gleichwohl typisch für viele hohe DDR-Funktionäre. Geboren 1929, kämpfte er als 16-Jähriger in Hitlers Volkssturm. Ohne Schulabschluss machte er nach Kriegsende eine Maurerlehre. Die SED, die das Bürgertum durch loyalere Kader ersetzen wollte, ließ ihn das Abitur nachmachen und an der Technischen Hochschule in Dresden ein Studium beginnen. Mit 22 Jahren rekrutierte ihn dort der neu gegründete DDR-Staatssicherheitsdienst.
Wie viele spätere Stasi-Generäle erlebte Großmann im Ministerium für Staatssicherheit einen rasanten Aufstieg. Mit 27 Jahren wurde er Vizechef der DDR-Militärspionage, mit 33 Abteilungsleiter. Nach dem Besuch der Parteihochschule in Moskau Mitte der 1960er Jahre und einem eher formalen Fernstudium an der Stasi-Hochschule schien er auch für höhere Würden geeignet: 1975 wurde er Wolfs Stellvertreter und elf Jahre später sein Nachfolger.
Zwar gehörte Großmann nun zum erlauchten Kreis der Mielke-Stellvertreter, doch glänzen konnte er nicht mehr in seinem Amt. Die spektakulären Erfolge der DDR-Spionage fielen durchweg in die Zeit seines Vorgängers, der wichtige Agenten wie den FDP-Politiker William Borm auch gerne mal selber traf. Ob Klaus Kuron im Bundesamt für Verfassungsschutz, ob Gabriele Gast im Bundesnachrichtendienst, ob Rainer Rupp im NATO-Hautquartier – sie alle waren schon sehr viel früher zur Stasi gestoßen. Großmann konnte sich lediglich zugutehalten, bei der HVA ein „EDV-Gesamtsystem“ eingeführt zu haben.
Drei Jahre später kam dann der unerwartete Absturz. Trotz seiner über 13.000 DDR-Informanten und mehr als 1500 westdeutschen Agenten hatte Großmann die Friedliche Revolution im Herbst 1989 nicht vorhergesehen. Dabei hatte er in seiner letzten Planorientierung noch versprochen, „alle politisch-operativen Maßnahmen auf den Schutz unserer Republik und der sozialistischen Staatengemeinschaft zu konzentrieren“.
Im März 1990 musste Großmann, gerade erst zum Generaloberst befördert, mit mittlerweile 61 Jahren den Dienst quittieren. Auf Druck der Bevölkerung wurde die Stasi ersatzlos aufgelöst. Die Hoffnungen der HVA, in einer reformierten DDR weiterarbeiten zu können, erfüllten sich dadurch nicht. Sie konnte dem Runden Tisch lediglich die Zustimmung abringen, dass sie sich selber liquidieren durfte – was sie dazu nutzte, den Großteil ihrer Akten zu vernichten. Was Großmanns Meinung nach „allen Beteiligten zur Ehre“ gereichte, führte später zu dem Eindruck, nur Ostdeutsche hätten sich zu Spitzeldiensten bereitgefunden.
Doch statt Dankbarkeit zu zeigen, verschrieb sich Großmann dem Kampf gegen Kritiker der DDR-Geheimpolizei. In seinem Buch „Bonn im Blick“ rühmte er die Spitzelarbeit seines Dienstes. In Vereinen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter fungierte er als graue Eminenz. Zu einer Sammlung mit Erinnerungen von DDR-Spionen steuerte er zusammen mit seinem Vorgänger ein Vorwort bei, in dem beide bekräftigten, dass „unsere Hochachtung und unsere Dankbarkeit uneingeschränkt allen früheren Kundschaftern“ gehören.
Von sich reden machte Großmann in dieser Zeit vor allem durch Auftritte bei der Linkspartei. Diese lud ihn mehrfach zu Lesungen und Gesprächen ein – was damals noch zu Protesten führte. Die Bundestagsabgeordnete Gesine Lötzsch, in deren Wahlbezirk sich die ehemalige Stasi-Zentrale befindet, verteidigte eine Einladung Großmanns damit, dass „sich die Linke eine neue Sachlichkeit im Umgang mit der DDR-Geschichte“ wünsche. Der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland bezeichnete sie deshalb als „Heilige Johanna der Alt-Tschekisten“, doch diese verhalfen ihr immer wieder zu einem Direktmandat im Bundestag, auch bei den letzten Wahlen.
Zuletzt lebte Großmann zurückgezogen in einem Seniorenheim in Berlin-Hohenschönhausen. Am 28. Januar ist er im Alter von 92 Jahren gestorben. Als sein Vorgänger Wolf 2006 zu Grabe getragen wurde, war die gesammelte Linken-Prominenz – von Dietmar Bartsch über Klaus Lederer bis Petra Pau und Klaus Ernst – zur Trauerfeier erschienen. Man darf gespannt sein, wer Werner Großmann die letzte Ehre erweisen wird.