Tichys Einblick
Ein Land ohne Kompass

Deutschlands außenpolitische Alleingänge: Sehnsucht nach dem postnationalen Nirwana

Deutschlands politische Klasse irrlichtert auch in der Ukraine-Frage zwischen unartikulierten wirtschaftlichen Interessen und naiver postnationaler EU-Begeisterung. Diese Orientierungslosigkeit macht Deutschland für seine Nachbarn unberechenbar.

Merkel hat 16 Jahre lang regiert, indem sie die meisten Probleme einfach vor sich herschob. Es gab Interimslösungen für den Moment, aber die Probleme blieben und wuchsen unter der Oberfläche, um eines Tages ihren Nachfolger heimzusuchen. Dieser Nachfolger ist ein Mann, der sicher gerne den Merkel-Kurs weiterverfolgen würde. Nur: das ist eben schwierig geworden, nicht zuletzt außenpolitisch.

Putins Versuch, vor der russischen Grenze eine große Einfluss- oder zumindest Pufferzone zu schaffen, die verhindert, dass ihm die Nato allzu stark auf den Pelz rückt, aber wohl auch das alte russische Imperium in neuer Form ein Stück weit wieder herstellen soll, hat Europa und insbesondere Deutschland in eine Krise gestürzt. Für Deutschland ist die Lage besonders unangenehm, denn da es – dank Merkel – aus der Kernkraft ausgestiegen ist, ist das russische Gas, dessen Lieferung Putin jederzeit reduzieren oder sogar einstellen kann, für uns absolut lebenswichtig, im Winter natürlich noch mehr als während der warmen Jahreszeit. Entsprechend fallen die deutschen Reaktionen aus. Manche Äußerungen aus Berlin, auch von Kanzler Scholz selbst, klingen so, als wolle man Putin geradezu ermutigen, die Ukraine militärisch zu erpressen, indem man schon vorab erklärt, dass es keine ernsthaften Sanktionen geben werde. Sicher, es gibt auch Signale, die in eine andere Richtung weisen. Dazu gehört etwa die Lieferung von 5000 handverlesenen Stahlhelmen – darunter wohl auch wertvolle ältere Sammlerstücke – an die Ukraine, die unsere großartige Verteidigungsministerin vor kurzem angeordnet hat. Dadurch wird das militärische Kräfteverhältnis vor Ort natürlich massiv verändert, das ist klar. Aber wird das reichen, um Putin abzuschrecken?

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Ansonsten zeigt die Ukrainekrise aber doch, dass deutsche Regierungen sicherheitspolitisch gelegentlich einen erstaunlichen Mut zu Alleingängen haben, wenn sie glauben, dass das nationale Interesse dies gebietet. Sehr geschickt stellt man sich dabei freilich nicht an, und zerschlägt überdies unnötig viel Porzellan mit Blick auf die Beziehungen zu den übrigen Nato-Staaten, auch zu den USA, auf deren Unterstützung und Schutz man natürlich in anderen Bereichen durchaus weiter angewiesen bleibt. Es entbehrt auch nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet ein SPD-Kanzler zu den alten, sonst vor allem von Alexander Gauland von der AfD propagierten Prinzipien der preußischen Politik des 19. Jahrhunderts zurückkehrt, die einem guten Verhältnis zu Russland immer einen wichtigen Platz einräumte, jedenfalls bis 1890. Erst mit dem Abgang Bismarcks in diesem Jahr änderte sich das. Der Rückversicherungsvertrag, ein russisch-deutscher Nichtangriffspakt des Jahres 1887, dessen Wert freilich umstritten war, wurde nicht mehr verlängert und das Deutsche Reich band sich nun mehr denn je an seinen einzigen verbliebenen Verbündeten, die morsche Habsburgermonarchie, ein Reich, das in manchem durchaus der heutigen EU ähnelte. Wie das endete, wissen wir.

Man weiß natürlich nicht, was Scholz sich so bei seiner Politik denkt, und ob der Rückversicherungsvertrag ihm überhaupt noch etwas sagt oder er mit dem Begriff der Realpolitik im Sinne Bismarcks etwas anfangen kann. Vieles spricht dafür, dass er sich eher zurücksehnt nach den großen Jahren der Entspannungspolitik in den 1970er Jahren, als unter der Führung der SPD die Bundesrepublik versuchte, einen modus vivendi mit der UdSSR zu finden. Diese Politik war nicht erfolglos, ging allerdings oft genug mit einer deutlichen Verharmlosung der sowjetischen Zwangsherrschaft in Ostmitteleuropa einher, ein Umstand, der besonders in Polen sorgfältig registriert wurde und dort bis heute einen recht bitteren Nachgeschmack hinterlassen hat. 

Nationale Realpolitik oder naive EU-Begeisterung?

Die nationalen Alleingänge der neuen Bundesregierung stehen freilich auch in einem merkwürdigen Kontrast zum europapolitischen Kurs der Regierung, denn da setzt man ja ganz auf ein baldiges Ende der Nationalstaaten, wie man im Koalitionsvertrag nachlesen kann, und möchte Deutschland eher früher als später in einem europäischen Superstaat vollständig aufgehen lassen. Merkel hat zu ihrer Zeit immerhin gelegentlich versucht, die Versuche der Partnerländer Deutschlands alle Schulden in der Eurozone vollständig zu vergemeinschaften – und das wäre natürlich die Voraussetzung für die Schaffung eines solchen Superstaates – , abzuwehren. Am Ende hatte das nur begrenzten Erfolg, aber dass sie gar keinen Widerstand geleistet hätte, kann man nicht sagen. Von der jetzigen Regierung ist ein solcher Widerstand kaum zu erwarten. Scholz selbst hat ja die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU nach Ausbruch der Corona-Krise – die eigentlich vertragswidrig war – schon als großartigen Hamilton-Moment gepriesen (eine Anspielung auf die später wieder revidierte Vergemeinschaftung der Schulden der amerikanischen Einzelstaaten nach der Gründung der USA), und von den Grünen weiß man, dass sie gerade in fiskalpolitischen Fragen nationale deutsche Interessen in der EU für grundsätzlich illegitim halten. Sicher, es gibt noch irgendwie die FDP – so wird zumindest von einigen Beobachtern in Berlin behauptet, auch wenn das empirisch zur Zeit nicht leicht belegbar ist – , aber welchen Kurs sie in diesen Fragen verfolgt, weiß eigentlich niemand. 

Und es stehen ja auch die Ökonomen bereit, die eine gemeinsame Schuldenaufnahme in der Eurozone oder der EU insgesamt in deutlichen Worten als Lösung für alle Probleme anpreisen. Nein, hier ist gar nicht Marcel Fratzscher gemeint, von dem wir ja wissen, dass er am Ende sehr viel mehr linker Politiker als Ökonom ist, sondern zum Beispiel jemand wie Michael Hüther, der Chef des eigentlich ganz seriösen Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln. Vor kurzem äußerte er sich in Der Welt zu den wirtschaftlichen Aussichten in Europa und sprach sich dabei deutlich dafür aus, Investitionen in ganz Europa in Zukunft immer stärker und in Billionenhöhe über eine gemeinsame Schuldenaufnahme zu finanzieren. Das wäre, so wörtlich, „großartig“ (Die Welt, 24.01.2022).

Dass eine solche Schuldenaufnahme in einem System wie der EU, respektive der Eurozone, die für die Fiskalpolitik der einzelnen Staaten nicht einmal ansatzweise irgendwelche durchsetzbaren Regeln kennt, für ein Land wie Deutschland ruinöse Risiken mit sich bringt, ja eigentlich suizidal ist, müsste eigentlich jeder erkennen können; die Misere der Euro-Politik der letzten 10 Jahren illustriert das ja auch eigentlich hinreichend. Das müsste auch einem Mann wie Hüther bewusst sein, aber es ist ihm wohl am Ende gleichgültig. Der Traum vom großen gemeinsamen europäischen Staat und die abwegige Annahme, wir könnten uns in Europa durch gigantische Geldgeschenke Freunde gewissermaßen kaufen, verdrängt die ökonomische Vernunft. 

Auf dem Weg zum neuen Technopopulismus?

So wie Hüther denken in Deutschland sicher viele, die zum Milieu der „Technopopulisten“ gehören, um einen von Chris Bickerton und Carlo Invernizzi Accetti (Technopopulism: The New Logic of Democratic Politics, Oxford 2021) jüngst geprägten Begriff zu verwenden. Technopopulisten – der französische Präsident Macron verkörpert diesen Politikstil besonders gut – halten das traditionelle Parteiensystem mit seinen Fronten zwischen Links und Rechts für überholt und glauben an die Regierung der Experten, versuchen aber zugleich im Einklang mit den jeweils dominierenden öffentlichen Stimmungen in der Bevölkerung zu regieren.  Folgt man Wolfgang Streeck (London Review of Books 27. Jan. 2022: In the Superstate), dann war auch Merkel in diesem Sinne eine Technopopulistin. Allerdings der Populus, an dem sie sich orientierte, war eher die Bevölkerung der EU als die Deutschlands, denn mit dem deutschen Nationalstaat konnte sie emotional wenig anfangen, so Streeck. Und leiten ließ sie sich von dem Ziel, Deutschland in einer europäischen Bürgergemeinschaft ohne politische Konflikte und Widersprüche aufgehen zu lassen, die von einer aufgeklärten Elite mit überlegenem Fachwissen ebenso wohlwollend wie postdemokratisch in Zukunft zu regieren ist. Das ist wohl eine Vision, die gerade in Deutschland von vielen Politikern, und eben auch von einschlägigen Ökonomen und anderen Experten geteilt wird.

Was der Koalitionsvertrag erwarten lässt
Die Ampel-Regierung der Illusionen
Nur, dieses unpolitische Verständnis von Politik, das die deutsche Europapolitik schon vor Merkel prägte und auch heute unter Scholz lenkt, steht in einem merkwürdigen Kontrast zu der dann von Fall zu Fall recht krassen Weise in der ganz traditionelle nationale Interessenpolitik betrieben wird, wenn es um Kernbereiche der Handelspolitik oder die Energieversorgung Deutschlands geht. Eine solche nationale Politik wirkt zwar oft unbeholfen, aber nicht zu übersehen ist, dass es hier auch linken Politikern in keiner Weise schwer fällt, sich von der Idee einer europäischen Solidarität, zu der sie sich sonst so oft emphatisch bekennen, zu emanzipieren, ja in mancher Hinsicht tun sie sich damit leichter als bürgerliche Politiker. Für unsere Nachbarn in der EU sollte das eine Warnung sein, sich nicht allzu sehr eine linke Regierung zu wünschen, nur weil diese so gern beim Weginflationieren der Schulden und der Einführung von Euro-Bonds mitmacht. Für so etwas zahlt man einen Preis, und der kann durchaus hoch sein.
Die deutsche Politik ist unberechenbar

Frankreich
"Das Opium der Eliten": der EU-Kult in Frankreichs Wahlkampf
Der jetzige deutsche sicherheitspolitische Kurs verstärkt freilich bei unseren Nachbarn in Europa das Gefühl der Unberechenbarkeit der deutschen Politik. Einerseits schafft man es in Fragen, die den Euro, die EZB oder die Fiskalpolitik betreffen, kaum je offen, deutsche Interessen zu artikulieren, andererseits besteht man außenpolitisch auf einer Sonderrolle, bei der sich Eigeninteresse und naiver Pazifismus mischen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Politik der USA und der Nato gegenüber Russland in den letzten Jahren besonders vernünftig war, denn man hat es bewusst auf einen Konflikt mit Russland ankommen lassen, ohne jemals den Willen zu besitzen, ihn notfalls auch unter Einsatz militärischer Mittel auszutragen, vor deren Anwendung Russland eben nicht zurückschreckt. Von daher war und ist eine Niederlage des Westens absehbar.

Aber das vermindert die Widersprüche der deutschen Politik nicht. Wenn wir in Europa und in der Welt ernst genommen werden wollen, dann müssen wir aufhören zwischen naiven Träumen von einem europäischen Superstaat einerseits und einer nationalen Interessenpolitik ganz alten Stils, die noch dazu oft recht ungeschickt angelegt ist, andererseits zu schwanken. Man müsste einen vernünftigen Mittelweg finden, aber dazu ist die deutsche politische Klasse wohl nicht fähig, nicht heute, nicht morgen und auch nicht übermorgen. 

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