Seit Monaten dominiert die geplante Impfpflicht die Schlagzeilen. Sie spaltet Familien und noch vor einem Monat schien die Einführung nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch langsam dreht sich die Stimmung. Die Mehrheitsverhältnisse sind unklar. Am Mittwoch debattierte erstmals der Bundestag dazu. In der sogenannten „Orientierungsdebatte“ im Bundestag haben die Vertreter der verschiedenen Fraktionen ihre Standpunkte klargemacht – manche allerdings auch offenbart, dass sie gar keinen echten Standpunkt in der Frage haben.
Die Grünen und die SPD befürworteten ganz überwiegend die Einführung einer Impfpflicht. Lediglich in der Frage, ob diese Impfpflicht altersbezogen ab 50 oder ab 18 Jahren gelten solle und in der konkreten Ausgestaltung, waren sich die Parteien intern uneins. Heike Bährens (SPD) forderte zum Beispiel eine Impfpflicht für alle ab 18 Jahren, befristet und beschränkt auf drei Impfungen.
Inhaltliche Argumente blieben weitestgehend aus, man beschränkte sich auf Phrasen. Till Steffens (Grüne) sagte: „Viele haben einen Beitrag geleistet, nun sind die anderen dran.“ Vor allem aber versuchte man die Impfpflicht ausgerechnet mit Freiheit zu begründen. Till Steffens zitierte dafür Perikles: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit und das Geheimnis der Freiheit ist Mut.“
Karl Lauterbach bezieht sich auf Hegel und meint: „Freiheit sei die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Und notwendig sei es, die Impfpflicht zu beschließen. Rasha Nazr forderte gar eine „Solidaritätsspritze“ und warb ebenfalls für die allgemeine Impfpflicht.
Abgeordnete der FDP-Fraktion drückten verschiedenste Standpunkte aus. Linda Teuteberg sprach sich gegen eine Impfpflicht aus: Sie warnte vor der Gewöhnung an staatliche Eingriffe. Kathrin Helling-Plahr sprach sich hingegen für eine allgemeine Impfpflicht aus – sie gehört zu den Abgeordneten der Ampel-Fraktionen, die zurzeit an einem Antrag für die allgemeine Impfpflicht arbeiten. Konstantin Kuhle forderte ein verpflichtendes Impf-Beratungsgespräch. Wenn dies nicht ausreiche, um die Impfquote zu erhöhen, müsse eine altersbezogene Impfpflicht ab 50 Jahren eingeführt werden.
Eine ähnliche Position vertrat auch der FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann.
Wolfgang Kubicki stellte sich klar gegen eine allgemeine Impfpflicht. Die Impfung sei ganz überwiegend Selbstschutz – und dadurch würden persönliche Bedenken an Relevanz gewinnen. Er wolle nicht, dass die Mehrheit für eine Minderheit entscheidet, was vernünftig und solidarisch ist. Dann müsse man nämlich aufpassen, nicht selbst irgendwann zur Minderheit zu werden.
„Wie viele Ordnungsämter brauchen wir?“
Die Union versuchte sich an einem Spagat – einerseits vermied sie eine klare Position in der Frage, andererseits kritisierte sie die Regierung für ihr Hin und Her. Man zog sich über die ganze Debatte auf rein formale Argumente zurück. Die Regierung habe keinen Gesetzesentwurf vorgelegt und zeige so in einer Krisensituation keine Stärke. Durchweg forderte die CDU/CSU-Fraktion die Einführung eines Impfregisters. Weiter wurde inhaltlich kaum Stellung bezogen. Eine endgültige Positionierung, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzung die Union einer Impfpflicht zustimmen würde, wurde vertagt. Lediglich Erwin Rüddel äußerte, dass Omikron seine Einschätzung der Lage verändert habe. Er sei nun nur noch für eine einrichtungsbezogene Impfpflicht.
Aus der Linken kamen durchaus kritische Stimmen. Gregor Gysi sagte, dass eine Impfpflicht so offensichtlich verfassungswidrig sei, dass der Bundespräsident sie nie unterschreiben würde. Angesichts von 11 Millionen Ungeimpften über 18 Jahren fragte Gysi: „Wie viele Ordnungsämter brauchen wir?“ Er warnt eindringlich davor, dass Bürger durch schlechte Information und Zwang immer stärker das Vertrauen in die Politik verlieren würden. „Wir brauchen deutlich mehr Vertrauen, sonst wird die Demokratie immer mehr Schaden nehmen.“ Kathrin Vogler sprach sich hingegen für die Impfpflicht aus.
Matthias Birkwald konnte mit seiner Rede einige Aufmerksamkeit erreichen. Seit 25 Jahren impfe er sich jährlich gegen die Grippe, erklärte der Abgeordnete. Außerdem habe er alle vom RKI empfohlenen Impfungen, so der Linken-Politiker. Nach der Corona-Impfung habe er heute noch immer Schmerzen an der Einstichstelle. Er erzählte, dass sein Vater einen Tag nach der Corona-Impfung gestorben ist. Als Birkwald das erzählt, sind Scholz und Habeck gerade in ein Gespräch vertieft und scheinen ihn gar nicht wahrzunehmen. Birkwald sagt, er sei selbst dennoch geboostert, sprach sich jedoch gegen eine allgemeine Impfpflicht aus.
Ob im Bundestag eine Mehrheit für eine Impfpflicht zustandekommen wird, bleibt offen. Höchstwahrscheinlich haben die Ampel-Fraktionen allein keine Impfpflicht-Mehrheit – dann hängt es in erster Linie an der CDU. Verhindert sie mit AfD und Teilen von Linken und der FDP die Impfpflicht, wäre das für sie der erste substanzielle Erfolg in der Opposition. Das erste große politische Vorhaben von Olaf Scholz wäre gescheitert. Doch bisher hat die Union dazu nicht den Mut – im Bundestag verweigert die Fraktion die inhaltliche Debatte, die Spitzen der Partei sprechen sich mehrheitlich weiterhin für die allgemeine Impfpflicht aus.
Angeblich brachte die Ampel die Debatte über diese heikle, grundrechtssensible Frage ins Parlament, um eine offene Debatte und Auseinandersetzung mit der Frage möglich zu machen. Im Ergebnis bleiben drei weitestgehend müde Stunden ohne größeren Erkenntnisgewinn – und eine Regierung, die währenddessen kollektiv auf ihre Handys schaut und so ihr Desinteresse demonstriert. Angesichts eines derart massiven, möglichen Eingriffs in die Grundrechte ist das eine Missachtung nicht nur des Parlamentes, sondern auch der Wähler selbst.
Der Deutsche Bundestag scheint die zentralen Entscheidungen in diesem Land mehrheitlich aber auch gar nicht treffen zu wollen.
Von Max Roland und Jonas Aston