Lange ist’s her, dass ein Bundespräsident zu „Versöhnen statt Spalten“ aufrief (Johannes Rau), lange auch, dass jemand etwas von demokratischem und rechtsstaatlichem Procedere verstand (Roman Herzog) oder gar von deutschen Interessen (Horst Köhler). Der derzeitige, der uns noch weitere vier Jahre nicht erspart bleiben soll, ist ein erschütternder Tiefpunkt. Das stellte Steinmeier erst gestern wieder unter Beweis – in einer „kleinen Diskussionsrunde“ mit ehrenamtlich engagierten Bürgern in seinem Amtssitz Schloss Bellevue zwar nur, doch die Tagesschau war offenbar dabei.
Nach Ruhmesworten für die „solidarische und verantwortungsvolle“, die „große, oft stille Mehrheit in unserem Land“ forderte er diese auf, nicht still zu bleiben, „wenn Extremisten die Axt ans demokratische Urvertrauen legen“.
Damit meinte er selbstredend nicht all jene Akteure in Politik und Medien, die dieses „Urvertrauen“ seit zwei Jahren unerbittlich mit der Kettensäge bearbeiten und mit ihrem Bemühen um größtmögliche Coronapanik manche Daten verzerrt verbreiten und anderes verschweigen – sondern jene Bürger, denen genau das aufgefallen ist. Er meint „sogenannte Spaziergänger“, die, wenn sie „von einer ‚Corona-Dikatur‘ schwurbeln“ nur „Verachtung für staatliche Institutionen“ zeigten.
Institutionen? Wer ist gemeint? Politiker? Nichtlegitimierte Entscheidungsgremien wie Ministerpräsidentenrunden, willfährige Wissenschaftler oder Ethikräte?
Hm. Ein vergifteter Stachel? Ist das nicht zumindest nah am Tiervergleich, der doch zurecht als diffamierend und darum inakzeptabel für eine zivilisierte Debatte gilt?
Man muss die Sätze, mit denen der Bundespräsident von der Tagesschau zitiert wird, in einen zeitgeschichtlichen Kontext stellen, um zu begreifen, auf welchem hohen Ross sitzend Steinmeier hier zu den Bürgern spricht. Wer alt genug ist, sich zu erinnern, denkt nicht nur an die DDR, in der die Nomenklatura ähnlich argumentierte, wenn der dumme Lümmel Volk aufbegehrte. Unsereins fallen auch die 1970er Jahre ein und die Kampagne gegen die „Sympathisanten“ der Terror-Gang Rote Armee Fraktion, da wurde ähnlich geholzt und gebolzt.
Mit einem Unterschied: Die RAF griff Demokratie und Rechtsstaat tatsächlich an, mörderisch gegen ihre Repräsentanten, sie hatte in der Tat viele Sympathisanten, die einen Systemwechsel wünschten – und sie wurde heimlich aber effektiv vom SED-Regime der DDR unterstützt. Dort förderte man den Kampf gegen Rechtsradikalismus in der „BRD“ ideell und materiell, man pflegte damit das Narrativ, der demokratische Westen sei noch immer Heimat des Nationalsozialismus, während die DDR ja nur ein bisschen stalinistisch war. Es ist erstaunlich, wie stark diese Propaganda noch immer in den Köpfen verankert ist, dagegen haben auch die vergangenen 30 Jahre offenbar wenig ausrichten können.
Nebenbei: In damaligen Demonstrationen bis heute war und ist ein treuer Begleiter der schwarze Block der Antifa – Spitzenkräfte, was die Instrumentalisierung oder, umgekehrt, Behinderung friedlicher Proteste betrifft. Man denke etwa an die Gewaltexzesse beim G20-Gipfel in Hamburg. Damals sprach der frisch gewählte Bundespräsident Steinmeier übrigens nicht von giftigen Stacheln oder einer Axt am demokratischen Urvertrauen, er war einfach nur „fassungslos“ sowie „schockiert und erschüttert“.
Dass auf den lahmen Gaul der rechtsradikalen Instrumentalisierung – Motto: das nützt doch nur dem Klassenfeind – noch immer eingedroschen wird, ist, gelinde gesagt, ein Skandal. Und dass auf der Linken viele diesen Bullshit mitmachen, jede Kritik am notabene demokratiefeindlichen und Rechtsstaatlichkeit verachtenden Politikstil der Alternativlosigkeit und des Notstands als mindestens rechts bis rechtsextrem zu verteufeln, lässt tief blicken. Wann war das noch mal, als „links“ sein hieß, die Verhältnisse und nicht zuletzt Staat und Politiker zu kritisieren?
Und obwohl es unfair ist, jemandem seine Jugendsünden noch Jahrzehnte danach vorzurechnen: Manch einer hat sie nie abgelegt. Offenbar auch Steinmeier nicht. Er war, das ist bekannt, während des Studiums Redakteur der Zeitschrift „Demokratie und Recht“, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stand – kein Wunder, erschien das Quartalsblättchen doch im Pahl-Rugenstein Verlag, und der wurde von der SED finanziert (was man schon damals wissen konnte, wenn man wollte).
Zufall, dass die Sprache, mit der den „Spaziergängern“ mit dem Schlimmsten gedroht wird, was hierzulande zu haben ist – dass sie sich mit „den Rechten“ gemein machten – der Sprache der SED und ihrer westdeutschen Sympathisanten so verdammt ähnelt?
Umso erstaunlicher, dass sich dennoch so viele selbst im Westen nicht davon abhalten lassen, gegen die durch kein Virus zu rechtfertigende autoritäre Maßnahmenpolitik zu demonstrieren. In der DDR haben die Montagsdemonstrationen zum Systemsturz geführt. Heute möchte eine wachsende Minderheit, Ost wie West, nur eines: die alte, demokratische, rechtsstaatlich gefestigte und damit den Bürger vor Maßnahmenwillkür schützende Bundesrepublik zurück haben.