Setzt man alle Kinder der Welt – 2022 sind das rund 2 Milliarden unter 15 Jahren – als 1.000, so gehören 315 in die Territorien der Araber und der Subsahara-Afrikaner, also in die Kerngebiete des ehemaligen französischen Kolonialreiches. Éric Zemmour (*1958) könnte einwenden, dass auch von den 6 französischen unter den 1.000 Weltenkindern 2 in diese Regionen gehören und sie in Wirklichkeit mit 317 von 1.000 in die Zukunft streben. Er wünscht sie in ihre Herkunftsgebiete zurück und will sein Land den verbleibenden 4 Kindern sichern. Gleichwohl müssen die 317, die Zemmour sich jenseits der Grenzen wünscht, nicht umgehend in Panik geraten. Denn seine – im September 2019 — deutlich und wiederholt geäußerte Bevorzugung der Altfranzosen ist mittlerweile als Rassismus definiert und am 17. Januar 2022 mit 10.000 Euro Strafe belegt worden.
Zemmour kann nicht einmal auf die vier Ethno-Franzosen rechnen, denen er die Heimat bewahren will. Da seine Zustimmungswerte maximal 15 Prozent erreichen, kann man ihm – großzügig gerechnet – bestenfalls eines der vier Kinder zuschlagen. Es stehen in und außerhalb der Heimat also 320 gegen diesen einsamen Zemmouristen. Der weiß jetzt, dass er bestraft und zugleich sozial vernichtet wird, wenn er La France lediglich für seinesgleichen will. Die 320 können sich mithin erst einmal entspannt zurücklehnen. Sollte unser Einzelgänger seinerseits vor einer so geballten Übermacht weichen müssen, so kann er immer noch nach Québec entkommen, wenn er die dortigen Einwanderungskriterien erfüllt.
In der Tat ist Frankreichs Gebärkraft in den Zeiten Napoleons (1769-1821) imponierend. Laue Pariser Sommernächte, so scherzt er in festlichen Abendrunden, bescheren ihm neue Armeen. Durch den Kontinent von Madrid bis Moskau stürmt er mitten in der Epoche von 1700 bis 1914, als Europa eisern gegen Geburtenkontrolle vorgeht und so von 125 auf 500 Millionen Einwohner springen kann. Der Korse selbst hat zwölf Geschwister und sinniert gänzlich unbekümmert: „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen!“
Nun kann man immer noch auf Qualität ausweichen, wenn es bei der Quantität nicht reicht. Unsere vier Alt- plus zwei Neufranzosen unter 1.000 Kindern global schaffen bei TIMSS 2019 in Naturwissenschaften und Mathematik den 40. und 41. Platz (Deutschland: 28 und 25). Das spricht zwar in keiner Weise für eine grandiose nationale Wiedergeburt, darf aber nicht vergessen machen, dass rund 160 Nationen – mit 80 Prozent des irdischen Nachwuchses – noch schlechter abschneiden und bei Spitzentechnologien niemals mitmachen können. Dreizehn dieser 160 haben gemäß PISA 2018 unter 1.000 einheimischen Kindern einen bis zehn Hochbegabte. Damit erreichen sie ein weltweit gar nicht so schlechtes mangelhaft, während die übrigen fast 150 Nationen mit null bis einem Hochbegabten ungenügend abschneiden. Frankreich mit 18 Könnern gehört in die Ausreichend-Gruppe (mit 11 bis 19 Asse auf 1.000). Diese 18 können es mit jedermann aufnehmen. Ihnen stehen allerdings im eigenen Land 212 Schulversager gegenüber, die ihr Leben lang auf Arbeitsmärkten kaum vermittelbar sind.
Vor den Nationen mit der Note Ausreichend stehen vierzehn Länder mit einem Befriedigend (20-32/1.000; darunter D 28/1.000; 211 Versager). Nur noch eine Handvoll – darunter Polen, die Niederlande und ganz oben die Schweiz – verfügt über 37 bis 49 Rechenkünstler auf 1.000 Kinder. Zur Sehr-Gut-Gruppe mit durchschnittlich 80 Top-Brains gehören ausschließlich Ostasiaten. In absoluten Zahlen verfügen sie über rund 80 Prozent aller Hochbegabten.
Zemmour hat den Abzug aus Afrika nicht einmal im Programm. Doch sein einer aufrechter Zemmourist unter sechs jungen Franzosen soll sich ja nicht nur in der Reconquête bewähren, sondern auch Frankreichs „technologische Schätze bewahren und nicht länger an Ausländer verscherbeln.“ Dass da niemand etwas unter Preis losschlägt, sondern verkaufen muss, solange Ostasiaten hiesige Firmen überhaupt noch ausspionieren oder übernehmen wollen, ist dem Präsidentschaftskandidaten so unbegreiflich wie den meisten Politikern in Europa und Nordamerika.
Deutschland und Schweden etwa „übergeben“ nach diesem Denkmuster ab den 1960ern Jahren den Kamerabau an Japaner. Den Schiffbau „überlässt“ man nicht nur ihnen, sondern auch Südkoreanern, damit die ihre Zerstörungen aus Welt- und Koreakrieg überwinden können. Unsere Theoretiker gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die damals noch vorne liegenden Europäer auch für alle Zukunft oben bleiben. Doch die vermeintlich gönnerhaft bedachten Werkbänke in Ostasien verfertigen sehr schnell auch die Blaupausen, erobern also Forschung und Produktion in einem Aufwasch. So steht es etwa 1994 bei PCT-Patentanmeldungen rund 8:1 für Frankreich (65 Millionen Einwohner) gegen Südkorea. Bis 2020 dreht sich das in ein 2,5:1 für die rund 50 Millionen Südkoreaner. Da hat niemand den Europäern etwas wegstibitzt, aber unter 1.000 südkoreanischen Kindern bei PISA 2018 finden sich nun einmal 69 Ausnahmemathematiker, in Frankreich hingegen nur 18.
Was – von Zemmour aber nicht antisemitisch – als Verrat vaterlandsloser Eliten hingestellt wird, erweist sich in der Realität als ein chaotisches Rette-sich-wer-kann aus den absteigenden bzw. lediglich noch zweitbesten Regionen. Weil die tüchtigsten Produzenten und die anspruchsvollsten Konsumenten nicht mehr – wie im europäischen Halbjahrtausend vom 16. bis zum 20. Jahrhundert – dieselben Leute sind, flüchtet Anlage suchendes Kapital immer dann zu Arbeitern in Ostasien, wenn deren Nationen – ab 1979 auch China – Eigentum schützen, es also für die Besicherung von Geld und als Pfand für Investitionskredite einsetzbar machen. Man investiert nicht in Lateinamerika, Afrika oder Südasien, obwohl dort die geringsten Löhne anfallen, sondern an Plätzen, wo nicht nur die aktuellen Fabrikate besser und preiswerter erstellt werden, sondern auch Zukunftstechnologien entstehen. Wo dafür die kognitive Kompetenz nicht ausreicht, bleiben selbst gegen Null tendierende Löhne uninteressant. Deshalb kann auch Europa etwa die verlorenen Computer- oder Telefonindustrien nicht durch Lohnsenkungen zurückholen. Niemand wird dadurch gescheiter. Wenn gerade die höchsten Anforderungen in gebotener Menge nur in Ostasien erfüllbar und eben deshalb alternativlos sind, dann werden die dort jeweils verlangten Löhne auch bezahlt. Man kann nicht zum Billigen fliehen, das unverkäuflich bleibt, sondern muss zu denen, die das Menschenmögliche auch lernen können. Eben deshalb kann China, das 1980 nicht einmal die Hälfte des Prokopfprodukts von Uganda erreicht, bis 2020 rund 800 Millionen Menschen aus der Armut holen bzw. ihnen immer höhere Löhne zahlen. Der längst entthronte Exportweltmeister Deutschland verkauft 2020 Waren für knapp 96 Mrd. Euro nach China, muss dort aber für gut 116 Mrd. Euro einkaufen, um die eigene Produktion überhaupt noch aufrechterhalten zu können.
Zemmours geplantes Öffnen der Tore nur noch für die Besten der Migranten kommt für Frankreich und den westlichen Teil der Europäischen Union extrem spät. Und es ist nicht leicht, Pessimisten eines „Längst-zu-spät“ mit starken Gründen zu widerlegen. So entscheidet etwa Canberra schon 1966, nur noch Leute ins Land zu lassen, die „integrationsfähig sind und über Qualifikationen verfügen, die Australien Vorteile bringen.“ Das soll die bis dahin rassistische Einwanderungspolitik bzw. die Bevorzugung von Nordeuropäern überwinden. Nicht mehr Pigmentierung, Augenstellung, Religion oder Verwandtschaft mit bereits Eingewanderten entscheiden über die Zulassung, sondern Kompetenz und Jugendlichkeit. Kanada und Neuseeland folgen gegen 1970. 2020 wechselt auch das United Kingdom mit einem halben Jahrhundert Rückstand in dieselbe Spur. Bern und Vaduz haben es all die Zeit nicht ganz so streng, aber doch ähnlich gehalten. Diese Kompetenzfestungen verstehen, dass die tagesaktuellen Bedürfnisse der Unternehmen nach billigen Arbeitskräften nicht identisch sind mit den langfristigen Interessen der Nation. Die muss morgen noch einfallsreicher sein, weil die heute Profit suchenden Firmen längst verschwunden sind, die von ihnen Hereingeholten den neuen Anforderungen aber nicht genügen. Wien und Bonn/Berlin agieren ähnlich wie Paris oder Washington immer noch wie Australien vor 1966. Das gilt allerdings nicht für die Osteuropäer vom Baltikum bis Ungarn, wo die Potenzen für Kompetenzfestungen noch nicht durch das Hereinholen Bildungsferner unterminiert sind.
Im Unterschied zu Frankreich glaubt Deutschland immer noch, ungespielte Asse im Ärmel zu haben. Wenn die seit den 1950ern Angeworbenen bzw. ihre Urenkel – rund 40 Prozent der Neugeborenen – erst einmal richtig Deutsch lernen, werden sie zu den heiß ersehnten Unternehmern von morgen. Wenn dann auch wieder Atomstrom fließt, werden sie auch bei den Preisen konkurrieren können. Zemmour hingegen weiß, dass die Millionen Neubürger aus der Frankophonie schon daheim Französisch parliert haben. Und bei der Nuklearenergie ist man ohnehin die globale Nummer Eins. Bei Robotern oder Quantencomputern liegt man trotzdem nicht vorne. Womöglich verfällt der nostalgische Träumer deshalb vor allem auf die anrührenden, aber auch bizarren Verweise auf die Grandeur von 1800.
Gunnar Heinsohn (*1943) hat 2011 am NATO Defense College (NDC in Rom) das Fach Kriegsdemographie eingeführt und bis 2020 gelehrt.