In der Politik gilt es seit eh, das „Cui bono“ zu bedenken. Wem nützt es? Eine Frage, die nun bei der aktuellen Situation in Kasachstan zwar nicht eindeutig zu beantworten scheint, jedoch dennoch nach der Antwort sucht. Weshalb es vielleicht Sinn macht, erst einmal nach dem „Wem nützt es nicht?“ zu fragen.
Es war absehbar: Angesichts der unübersichtlichen Situation in der zentralasiatischen Postsowjetrepublik gilt es, Erzählungen, die neudeutsch Narrative heißen, zu schaffen. Vorneweg – auch das war zu erwarten – Erzählungen von jenen, die vielleicht den größten Nutzen aus der Situation ziehen. Oder zu ziehen suchen.
Die Erzählung von den 20.000 fremden Kämpfern
Die erste Erzählung war die des autokratischen Präsidenten Toqajev. Sie begann damit, dass Terroristen den Versuch unternommen hätten, die Macht zu übernehmen. 20.000 sollten es allein in Almati, dem früheren Alma Ata, sein. Schnell flocht Toqajev in seine Erzählung eine andere ein. Eine, die zuerst aus Moskau zu hören gewesen ist und dann in Peking wiederholt wurde. Unter den Terroristen seien ausländische Aktivisten. Man höre bei den 20.000 Kämpfern in Almati Stimmen, die kein kasachisch sprächen. Welcher Sprache sie sich bedienten, das schrieb Toqajev in seinem Tweet nicht. Auch konnte er – unüblich in totalitären Systemen – keinen einzigen Terroristen präsentieren, der kein Kasache ist. Allerdings hat er bislang noch überhaupt keinen der Terroristen präsentieren können. Eine Folge vielleicht seines uneingeschränkten Tötungsbefehls? Gefangene sollen, folgt man den Aussagen des Präsidenten und seines Innenministeriums, nicht gemacht werden. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil damit tatsächlich verhindert wird, einen überlebenden Terroristen auf seine Herkunft, vielleicht auch auf seine Hintermänner zu überprüfen. Und: Der entsprechende Tweet des Präsidenten wurde bald nach seiner Ins-Netz-Stellung gelöscht. Also doch eher nur eine Erzählung – keine Tatsachen.
Die Erzählung von der Farbenrevolution
Womit wir bei der nächsten Erzählung sind. Sie stammt aus Peking und wird umgehend auf Zustimmung in Moskau und Nur-Sultan treffen. Sie lautet: In Kasachstan sei der Versuch unternommen worden, wie in der Ukraine durch eine „Farbenrevolution“ ein neutrales Land in die Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten von Amerika zu zwingen. Es ist eine Erzählung, die von Moskau in Sachen Ukraine seit 2014 kontinuierlich verbreitet wird. Sie lautet: Die CIA stecke hinter allen Umsturzversuchen und Umstürzen in ehemaligen Sowjetrepubliken. Das Ziel der US-Imperialisten: Russland einzukreisen und seiner existentiellen Grundlagen zu berauben.
Selbstverständlich: Es ist eine klassische Erfahrung, dass jene, die Erklärungsversuche für etwas möglicherweise Unerklärliches vornehmen, zuallererst darauf verfallen, jenes, was sie selbst getan oder geplant hatten, als des Konkurrenten böswilliges Vorgehen zu bezeichnen. Lassen wir dahingestellt, ob diese Erfahrung auch auf die aktuelle Situation zutrifft. Schauen wir besser darauf, welchen Nutzen – oder Nichtnutzen – die USA davon hätten haben können, das System Toqajev zu stürzen.
Kasachstan und das Öl
Für die Erzählung spricht, dass in Kasachstan US-Interessen unmittelbar bedroht sind. Oder besser: Die Interessen von US-Unternehmen. Kasachstan verfügt über schier unermessliche Rohölreserven. Sie gelten nach denen Russlands als die zweitgrößten Eurasiens. Förderer und Exporteur ist die staatliche KazMunaiGaz. Das börsennotierte Unternehmen arbeitet mit der Volksrepublik China und Russland zusammen, kaufte sich 2007 in den EU-Markt ein, indem es 75 Prozent der rumänischen Rompetrol übernahm.
Das aktuell größte Förderprojekt soll das Ölfeld Kaschagan sein. Daran allerdings hält KazMunaiGaz jedoch nur einen Anteil von 16,88 Prozent. Daneben sind es zumeist westliche Unternehmen, die an der Offshore-Förderung im Kaspischen Meer beteiligt sind: Die italienische Eni, ehedem Agip; die britische Royal Dutch Shell (RDS); die französische TotalEnergies SE und die amerikanische Exxon Mobil halten jeweils 16,81 Prozent. Weitere Partner sind die China National Petroleum Corporation mit 8,4 und die japanische Inpex mit 7,56 Prozent.
Ein weiteres Ölfeld ist das am Kaspischen Meer gelegene Tengiz. Seine Ölreserven wurden ursprünglich auf 26 Milliarden Barrel geschätzt. An diesem Feld hält die amerikanische Chevron 50 Prozent. Weitere Partner sind die ebenfalls amerikanische Exxon mit 25, KazMunaiGaz mit 20 und die russische Lukoil mit 5 Prozent.
Auffällig ist, dass an allen bedeutenden Feldern westliche Unternehmen die deutliche Mehrheit halten. Russland und China sind mit nur äußerst geringen Anteilen im Geschäft – und die Kasachen selbst überlassen den Großteil der Gewinne den Großkonzernen. In diesem Zusammenhang mag es nun Bedeutung haben, dass die Chevron den Langzeit-Diktator Nursultan Nasarbajev mit 78 Millionen Dollar bestochen haben soll. Trifft dieses Recherche des „New Yorker“ zu, dürfte unterstellt werden, dass auch die anderen beteiligten Unternehmen private Absprachen mit dem früheren Staatschef vorgenommen hatten.
Vom Un-Nutzen der USA
Unabhängig davon und weil in jenen Regionen nicht unüblich stellt sich jedoch die Frage, welches Interesse ausgerechnet die USA hätten haben können, diese lukrativen Geschäfte durch einen Staatsstreich in Kasachstan zu gefährden? Die Tatsache allein, dass US-Unternehmen nicht in allen Feldern den Hut aufhaben, kann als Begründung nicht ausreichen – und dieses umso mehr, wenn ein möglicherweise in Langley geplanter Staatsstreich derart dilettantisch angegangen wird, wie dieses angesichts der Energiepreisaufstände unübersehbar ist.
Zwar ist den USA durchaus und gern zu unterstellen, außenpolitisch nicht wirklich viel von der Welt zu verstehen – doch die aktuelle Erzählung von der CIA-gesteuerten Farben-Revolution können wir getrost im Märchenbuch abheften. Sie hätte derart exzellent durchorganisiert und vorbereitet gewesen sein müssen, dass sie tatsächlich in einer einzigen Nacht das gewünschte Ergebnis gezeitigt hätte. Dazu hätte es zudem irgendwelcher charismatischer Oppositioneller bedurft, die sich an die Spitze von Revolution und Umsturz-Regierung hätten stellen müssen. Das aber ist offenkundig nicht der Fall. Insofern macht diese Erzählung von US-Geheimdienstmachenschaften hier keinen Sinn. Und das auch deshalb, weil es gerade einmal ein halbes Jahr her ist, dass die USA und ihre Verbündeten eine mögliche Basis, um aus Langley gesteuerte Revolutionäre notfalls unmittelbar unterstützen zu können, mit dem Abzug aus Afghanistan aufgegeben hatten.
Um dennoch kurz bei der beliebten CIA-Erzählung zu verweilen – hätte es einen tatsächlichen Grund, einen effektiven Nutzen geben können, um in einer Panikreaktion einen mehr als dilettantischen Versuch vorzunehmen, das Regime Toqajev durch ein eindeutig pro-westliches zu ersetzen? Vielleicht einen einzigen. Wenn Toqajev selbst geplant hätte, die westlichen Beteiligungen an den Ölquellen im Handstreich zu übernehmen und die Unternehmen vor die Tür zu setzen. Doch dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis – und es machte auch keinerlei Sinn, denn das Geld sprudelt dank westlicher Fördertechnologie. Wenn also überhaupt, dann hätte Toqajev die Partner an den Verhandlungstisch bitten können, wie dieses in der Vergangenheit gelegentlich der Fall gewesen ist. Deshalb aber riskiert auch eine CIA nicht, die lukrativen Beteiligungen US-amerikanischer Unternehmen grundsätzlich zu gefährden.
Ein scheinbar idealer Nachfolger
Nachdem nun dargelegt wurde, wem die Situation in Kasachstan nicht nützt, sollte der Blick auf mögliche Szenarien jener gerichtet werden, die daraus Nutzen ziehen können. Dabei schauen wir zuerst auf Toqajev selbst.
Der 1953 in Alma-Ata/Almati geborene Kasache entstammt einem intellektuellen Elternhaus. Seine universitäre Ausbildung lief über Stationen in Moskau und Peking mit Schwerpunkten in internationaler Politik und Geschichtswissenschaften. Der Berufsweg führte Toqajev über das sowjetische Außenministerium und Botschaftstätigkeiten in Singapur und Peking ab 1991 in das Außenministerium und auf den Premierministerposten des nun unabhängigen Kasachstan. 2011 berief ihn der damalige Generalsekretär der UNO als Generaldirektor des UN-Büros in Genf.
Mit diesen Weihen wurde er am 20. März 2019 Nachfolger des Langzeit-Diktators Nursultan Nasarbajev, was ausschließlich mit dessen ausdrücklicher Absegnung möglich war. Toqajev bedankte sich umgehend, indem er vorschlug, die neue Hauptstadt Astana nach seinem Vorgänger Nursultan umzubenennen. Das mit ausgesuchten Personen besetzte Parlament folgte artig – die Bürger Astanas sollen allerdings weniger Vergnügen an dem neuen Namen verspürt haben.
Nun trat Toqajev in die Fußstapfen seines mächtigen Vorgängers, der sich einen verfassungsmäßigen Führertitel und rechtliche Unantastbarkeit ebenso gesichert hatte wie den Vorsitz des mächtigen Sicherheitsrates, der unter anderem über die Besetzung der wichtigsten Posten im Staat verfügen konnte. Gleichwohl trat Toqajev ein schwieriges Erbe an. Letztlich immer noch Marionette seines Gönners, regte sich im Volk Unmut, der nun zum Ausbruch gekommen zu sein scheint.
Eine interne Fehde?
An dieser Stelle müssen wir genau hinschauen. Tatsächlich scheint Toqajev von der Dimension der Unruhen überrascht worden zu sein. Und doch sind seine Reaktionen unerklärlich. Der definitive Tötungsbefehl ohne Vorwarnung und Aufforderung, die Gewalt einzustellen, passt nicht zu dem Bild, welches der Lebenslauf Toqajevs zu vermitteln scheint. So reagiert ein Staatschef nur dann, wenn er entweder tatsächlich mehr als ernsthaft um seine Existenz fürchtet – oder die Unruhen für andere Ziele zu nutzen sucht.
Tatsache ist: Die vom Innenministerium geleiteten Sicherheitskräfte wären offensichtlich trotz einiger Verluste in der Lage gewesen, die Situation in den Griff zu bekommen. Nach ihrem Einsatz soll es bereits mit Ausnahme der Metropole Almati im Land weitgehend ruhig gewesen sein. Wozu also die martialischen Tötungsbefehle und die Erzählungen von fremdgesteuerten Terroristen, die in Tausendschaften über die Metropole herfallen?
Schauen wir einmal auf die Nebenerscheinungen, die vielleicht etwas Licht ins Dunkel bringen könnten. Auffällig ist, dass bereits am Tag des Beginns des Aufruhrs der Alt-Diktator von seinem Amt als Chef des Sicherheitsrats zurücktrat. Oder besser, nach aktueller Kenntnislage: Zurückgetreten wurde. Am 8. Januar wurde dann auch der bisherige Vize im Sicherheitsrat und frühere Geheimdienstchef, Abdymomunov Azamat Kurmanbekovich, aus seinem Amt entfernt. Er gilt als einer der engsten Vertrauten des früheren Diktators. Karim Massimov, ebenfalls ein enger Vertrauter Nasarbajevs und seit 2016 Vorsitzender des Nationalen Sicherheitskomitees, war bereits zuvor am 5. Januar seines Amtes enthoben worden und ist unter dem Vorwurf des Hochverrats inhaftiert.
Diese Vorgänge scheinen darauf hinzudeuten, dass Toqajev gegenwärtig dabei ist, die alten Eliten, die ihn sich zum Marionetten-Präsidenten auserkoren hatten, abzuräumen. Der ehemalige Diktator und zwei seiner wichtigsten Gefolgsleute aus dem Amt gejagt, in zumindest einem Fall verbunden mit dem Vorwurf des Hochverrats – das sieht mehr als nur oberflächlich nach Säuberung aus.
Eine Selbstinszenierung des Putsches?
So ist die Frage zulässig: Hat Toqajev wie einst Erdogan den Putsch selbst inszenieren lassen, um sich seine bedrohte Position zu sichern? Wollte er sich auf diesem Wege seiner Herren im eigenen Haus entledigen? Die Gewalt, die sich bei diesen Unruhen entladen hat, spricht eher dagegen, dass die Initiative dazu von Toqajev selbst ausgegangen ist. Vorstellbar allerdings ist, dass bei ihn der Eindruck vorherrschte – oder dieser bei ihm von wem auch immer erweckt wurde -, dass die alte Garde die Unruhen geplant hatte, um sich ihrerseits Toqajevs zu entledigen. Ist es denkbar, dass dieser Eindruck vielleicht sogar den Tatsachen entsprach?
Tatsächlich jedoch scheint dieses Szenario wenig wahrscheinlich, denn es ist kaum anzunehmen, dass die beiden Nasarbajev-Adlaten seelenruhig und lammfromm auf Entlassung und Verhaftung gewartet hätten. Zudem scheint der Vorwurf des Hochverrats konstruiert. Denn worin konkret hätte dieser Hochverrat des Vorsitzenden des Sicherheitskomitees bestehen sollen? Ein heimlich geplanter, aber nicht durchgeführter Mordanschlag auf Toqajev? Dafür spricht nichts. Die Organisation der Aufstände mit dem Ziel, Toqajev zu stürzen? Theoretisch vorstellbar – aber nicht, wenn der Strippenzieher arglos auf seine Häscher wartet.
Fürchtete Toqajev seine eigenen Sicherheitsorgane?
Trotzdem könnte genau diese Erzählung manches erklären. Vor allem den unmittelbaren Hilferuf des Präsidenten von Nasarbajevs Gnaden an das von Putin angeführte Militärbündnis. Nachvollziehbar wäre das damit zweifellos verbundene Risiko, dass Russland die Chance nutzt, sich wie in Armenien und Weißrussland militärisch in Kasachstan festzusetzen und das bislang unabhängige Kasachstan zu einem Satellitenstaat zu machen, nur, wenn Toqajev davon ausgegangen ist, der implizierte Staatsstreich der alten Eliten werde von maßgeblichen Teilen der Sicherheitskräfte mitgetragen. Denn mit der Anwesenheit russischer und anderer Einheiten steht nun im Ernstfall eine geschulte Armee bereit, um aufständische Sicherheitsorgane Kasachstans zugunsten des Präsidenten schnell in den Griff zu bekommen.
War das der eigentliche Beweggrund, weshalb Toqajev unmittelbar nach der militärischen Unterstützung aus Moskau und Co. gerufen hat? Zumindest wäre es eine Erklärung für dieses ansonsten wenig plausible Vorgehen, sich ohne tatsächliche Not fremde Truppen ins Land zu holen. Und es könnte erklären, weshalb Toqajev im wahrsten Sinne des Wortes die ihm unerwartet gegebene Chance nutzt, um sich der Protagonisten des alten Regimes zu entledigen. Nicht von ihm geplant – aber von ihm ergriffen, als protestierende, vielleicht auch randalierende Bürger in den Städten marodieren.
Der den größten Nutzen hat …
Blicken wir nun noch auf jenen Wladimir Putin, der allem Anschein nach den größten Nutzen aus den Vorgängen zu ziehen weiß.
Vorab: Es gibt derzeit keine haltbaren Hinweise darauf, dass die aktuelle Situation unmittelbar aus Moskau inszeniert wurde. Dagegen scheint zumindest zu sprechen, dass Putin seine Einheiten teilweise sogar aus den an der Ukraine stationierten Soldaten abgezogen hat. Dafür wiederum könnte die Schnelligkeit sprechen, mit der die Verlegung erfolgte. Doch das allein für sich könnte auch damit erklärt werden, dass Verteidigungsminister Shoigu ohnehin ständig darauf vorbereitet ist, Teilkräfte im Eiltempo verlegen zu müssen.
Also lediglich ein Beweis für die Leistungsfähigkeit der einstmals roten Armee? Möglich, dass es so ist. Wären da nicht jene oben genannten Ungereimtheiten im Verhalten Toqajevs – und wäre da nicht der offen deklarierte Anspruch Putins, frühere Sowjetrepubliken wieder fest an Moskau zu binden.
Hat Putin also selbst an den Stellschrauben gedreht, um in Kasachstan eine Situation zu schaffen, die ihm die Rückholung der verlorenen Kolonie ermöglicht?
Ein begnadeter Spieler und Trickser
Tatsache ist, dass Putin aus den Vorgängen in der Ukraine gelernt hat. Eine Situation wie 2014, als sein Vasall aus dem Amt gejagt und das Land erneut auf Westkurs gedreht wurde, sollte sich nicht wiederholen. Zudem gilt der russische Geheimdienst als effizient und skrupellos. So unterstellt ihm die Führung der Ukraine, Konzepte entwickelt zu haben, bei denen mittels herbeiorganisierter Unruhen die russische Armee als vorgebliche Friedenstruppe eingreift und die Ruhe wieder herstellt. Und dabei zugleich sicherstellt, dass die gewünschte Anbindung an Moskau bis auf weiteres unumkehrbar wird.
Sind die russischen Dienste derart effizient und planungssicher, wie ihnen unterstellt wird, dann dürfen wir davon ausgehen, dass derartige Planspiele existieren. Die Frage allerdings ist: Werden sie auch umgesetzt? Wurden sie möglicherweise in Kasachstan umgesetzt?
Dagegen spricht die scheinbare Spontaneität, mit der die Unruhen ausgebrochen sein sollen. Die allerdings gehören auch dann zum Spiel, wenn dieses inszeniert ist. Denn ein Aufstand mit Ansage ist keiner. Dagegen spricht weiterhin, dass auch Putin scheinbar von der Situation überrascht war. Doch er gilt als guter Pokerspieler – insofern keine zwingende Entlastung. Eine von langer Hand vorbereitete False-Flag-Operation scheint dennoch nicht zwangsläufig.
Der Weg durch die Hintertür
Denken wir einmal um die Ecke. Putins Ziel, Kasachstan wieder eng an Russland zu binden, steht außerfrage. Die Möglichkeit, das Land grundlos zu besetzen, scheidet jedoch aus. Was aber könnte im Rahmen des gegenseitigen, militärischen Beistandspakts einen möglicherweise sogar eher zum Westen neigenden Präsidenten dazu bringen, sich im Eiltempo die Russen und deren Vasallen ins Land zu holen?
Die plausibelste Erklärung dafür ist jene oben geschilderte Situation, in der ein schwacher Präsident von Gnaden einer allmächtigen, alten Garde sich von dieser unmittelbar bedroht sieht. Wenn Toqajev davon ausging, dass die Unruhen von seinen Vorgängern inszeniert wurden, und wenn er weiterhin davon ausging, dass die kasachischen Sicherheitskräfte sich auf die Seite der alten Garde stellen würden, dann könnte dieses den überhasteten Ruf nach den Allianzpartnern erklären.
Sollte Toqajev davon ausgegangen sein, es bei den Unruhen mit einem von seinen Vorgängern inszenierten Putschversuch gegen ihn persönlich zu tun haben, bei dem die Sicherheitskräfte sich auf die Seite dieser Putschisten stellen könnten, dann macht nicht nur das schnelle Vorgehen gegen die immer noch in Schlüsselpositionen sitzenden, gemutmaßten Verschwörer Sinn – dann erklärt sich auch das überhastete Hereinholen fremder Truppen und die Panikattacken, mit denen Toqajev auf die Unruhen verbal reagierte.
Sollte es so sein, dann richtet sich der Blick nicht auf Washington und ebenso kaum wahrscheinlich auf Peking. Sollte es so sein, dann findet sich diese wohlmeinende Person genau dort, wo derjenige sitzt, der künftig am meisten Nutzen aus der Situation ziehen wird. Und das wäre, sollte es so sein, jener Wladimir Putin, dem Freund wie Feind unterstellt, ein begnadeter Spieler und Trickser zu sein.
Sollte es so sein, dann hat Putin ein Meisterstück abgeliefert, indem er aus einer Situation, an der er vielleicht ein wenig hat schrauben lassen oder die er vielleicht auch einfach nur geschickt genutzt und befeuert hat, alles für sich und seine Idee von Russland herausgeholt hat, was herauszuholen war.
Toqajevs Kasachstan wird sich künftig in engster Anbindung an Moskau wiederfinden. Putin wird bestimmen, welche Politik in Nur Sultan, welches voraussichtlich in nicht allzu ferner Zukunft wieder Astana heißen wird, gemacht wird. Somit werden sich auch jenseits offenen Vertragsbruchs Wege finden lassen, die von Nasarbajev eingefädelten Verträge mit westlichen Ölkonzernen zu Russlands Nutzen zu korrigieren. Künftige Rohstofflager, darunter bedeutende Uranvorkommen, werden ohnehin eher dem Nutzen Russlands dienen, als dass sie den Europäern oder Amerikanern überlassen werden. Zudem sichert sich Russland so einen Zugang nach Süden – und was vielleicht noch wichtiger werden kann: Ein Aufmarschgebiet gegen den zweifelhaften Verbündeten China. Daneben steht nun auch die Mongolei abschließend auf verlorenem Posten – umgeben von China und Russland und dessen Vasallen hat das Land, auf das sich die Begehrlichkeiten von Norden wie von Süden richten, wenig Möglichkeiten, einen unabhängigen Kurs zu fahren. Vorausgesetzt, es sollte das überhaupt jemals vorgehabt haben.
So könnte es sein. Vorausgesetzt, es sollte so sein.