Tichys Einblick
Straatsstreich oder Volksaufstand?

Die Unruhen in Kasachstan: große Chance und großes Risiko für Putin

Einerseits hat Moskau sein Ziel nicht aufgegeben, die zentralasiatische Republik wieder in die „Russische Welt“ aufzunehmen, andererseits formuliert die Volksrepublik China historische Ansprüche und versucht, diese durch Einbindung in die Seidenstraßenprojekte zu befördern.

Russische Soldaten landen in Kasachstan am Morgen des 8. Januar 2022

IMAGO / SNA

Wie sollen wir das nennen, was sich gegenwärtig in dem zentralasiatischen Staat Kasachstan abspielt? Sind es gewalttätige Demonstrationen oder ist es bereits ein Volksaufstand, wie es von manchen Beobachtern im Westen gesehen wird? Ist es das Werk von Terrorbanden, wie es der kasachische Autokrat Toqajew sieht? Handelt es sich, wie Russlands Außenministerium verbreitet, um einen von äußeren Mächten inspirierten Versuch, die Sicherheit und Integrität Kasachstans mit Gewalt zu unterwandern? Hat der weißrussische Diktator recht, wenn er von einem „Staatsstreich“ spricht?  

Tatsache ist: Seit einigen Tagen kommt es in der ehemaligen Sowjetrepublik zu gewalttätigen Unruhen, dem Einsatz des Militärs gegen die, nennen wir sie Unruhestifter, und dem Herbeirufen ausländischen Militärs zwecks Unterdrückung der Unruhen. Das Staatsfernsehen meldete in der Nacht auf Samstag, dass die Sicherheitskräfte in mehreren Städten des Landes weiter gegen Demonstranten vorgingen. Auf einem Internetportal ist die Rede von Schießereien und Explosionen in der Nacht in der Metropole Almaty.

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Bilder, die uns aus dem ehemaligen Kernland der Goldenen Horde des Mongolenherrschers Dschingis Khan erreichen, scheinen tatsächlich bürgerkriegsähnliche Zustände zu zeigen. Marodierende Massen zumeist männlicher Kasachen, brennende Autos und Bürogebäude. Schüsse sind zu hören, Alarmsirenen und die Rufe der Aufständischen. Der staatlich gelenkte Sender „Khabar24“ erklärt im Namen des Innenministeriums: 26 Demonstranten wurden getötet, weitere 18 verletzt. Mehr als 3.000 „bewaffnete Verbrecher“ seien festgenommen worden.

Gesundheitsminister Ashar Guinijat nennt andere Zahlen, spricht von „Dutzenden getöteten Demonstranten und mehr als 1.000 Verletzten. 400 davon befänden sich aktuell in Krankenhäusern, 62 auf der Intensivstation. Zahlen auf Seiten der „Sicherheitskräfte“ steuert das Innenministerium bei: 18 Tote und 748 Verletzte hätten die Zusammenstöße im Land dort bislang gefordert.

Staatschef Qassym-Schomart Toqajew wird deutlich: „Die Anti-Terror-Einsätze werden bis zur kompletten Auslöschung der Kämpfer andauern.“ Für ihn sind jene, die seine Macht in Frage stellen, Terroristen. Das Innenministerium droht: „Wer sich weigert, seine Waffen niederzulegen, wird zerstört!“

Schon jetzt sind die Unruhen in Kasachstan ein Krieg der martialischen Worte und der Propaganda. Demonstranten werden zu Terroristen und Staatsfeinden, angebliche Fremdsteuerung soll einen Verteidigungsfall konstruieren.

Ein Land ohne Ruhe

Kasachstan – das ist ein Land, das uns in Westeuropa anscheinend ewig fern ist. Daran änderte sich auch nichts, als im Rahmen der Kohl’schen Ostpolitik zahlreiche Deutschstämmige, die unter Stalin dorthin, in die trockene Mitte Asiens, zwangsumgesiedelt worden waren, in die Bundesrepublik umsiedelten. Wenn wir von Kasachstan hören, dann deshalb, weil dort mit Baikonur der sowjetische Raumfahrtbahnhof liegt. Heute dient er vor allem der Versorgung der internationalen Raumstation und wird, wie der Chef der Russischen Raumfahrtagentur mitteilte, verschärft durch bewaffnete Sicherheitskräfte bewacht. Doch seine Tage zumindest als Bahnhof der US-Europäer dürften gezählt sein. Der ESA-Bahnhof in Französisch-Guyana übernimmt diese Aufgaben – und er gehört zur Europäischen Union.

Kasachstan – das ist historisches Siedlungsgebiet der nomadischen Mongolen und Turkmenen. Und es ist spätestens seit dem Spätmittelalter stets Spielball der regionalen Großmächte Russland und China gewesen. Zwischen 1825 und 1881 kolonisierten die russischen Zaren Nikolaus I. und Alexander III. das islamisch geprägte Zentralasien, gemeindeten es ihrem großrussischen Imperium ein und unterwarfen gewaltsam ethnische Widerstände. Die postzaristische Sowjetunion machte aus den turkmongolischen Siedlungsgebieten Sowjetrepubliken, die nach der Implosion des gescheiteren Sozialismusexperiments 1990 ihre Unabhängigkeit erklärten.

Nie eine Demokratie

Kasachstan, die mit 2,7 Millionen Quadratkilometern flächenmäßig größte postsowjetische Staatenneugründung, wurde von Anbeginn an autokratisch beherrscht. Nursultan Nasarbajew, der die neue Hauptstadt Astana nach sich in Nur-Sultan umbenennen ließ, regierte von 1990 bis 2019 als faschistischer „Elbasy“ (Führer) mit harter Hand. Aus der Kaderschmiede der KPdSU stammend, sicherte er gleich seinem russischen Nachbarn seine Regentschaft durch Scheinwahlen, Unterdrückung der Opposition und Verfassungsänderungen. Die Administration funktionierte nach klassischer Vetternwirtschaft und soll vor allem dafür Sorge getragen haben, die Einkünfte aus dem Öl- und Gasgeschäft im Familien-Clan zu halten. So hat Nasarbajew nach Recherchen des New Yorker allein für die Vergabe von Ölförderlizenzen an US-Firmen 78 Millionen Dollar Schmiergeld erhalten. Die Schweizer Bundesanwaltschaft ermittelt gegen den Clan wegen Geldwäsche, 120 Millionen Dollar aus Ölgeschäften sind dort infolge eines US-Rechtshilfebegehrens blockiert – letztlich nur jene berühmten „Peanuts“ bei einem Privatvermögen, das bereits 2010 bei rund sieben Milliarden Dollar gelegen haben soll.

Das Staatsunternehmen als Clanwirtschaft sorgte dafür, dass bei den rund 19 Millionen Kasachen wenig vom Reichtum ankam. Nach ersten Unruhen gegen die Zustände im Land trat Nasarbajew im März 2019 den vorsichtigen Rückzug an und übergab sein Präsidentenamt an den international gut vernetzten Toqajew. Er selbst sicherte sich den verfassungsmäßigen Führer-Titel sowie den Vorsitz des Sicherheitsrats, welchen er allerdings angesichts der jüngsten Unruhen am 5. Januar 2022 aufgab.

Von der Neutralität in russische Abhängigkeit

Lange Zeit versuchte sich das totalitär regierte Kasachstan über eine neutrale Position in vorsichtiger Annäherung an den Westen. So sollte ein Dekret zur Umstellung von kyrillischer auf lateinische Schrift die insbesondere von der russischen Bevölkerung im Norden des Landes abgelehnte Abnabelung von Russland fördern, während der Gefahr der radikalislamischen Machtübernahme durch ein Bart-Verbot für junge Männer und das Verbot für junge Frauen begegnet werden sollte, sich in schwarz zu kleiden. Dennoch sorgte die Anbindung vor allem der jungen Kasachen an die globale Netz-Community dafür, dass das totalitäre und korrupte System hinterfragt wurde.

Trotz der Versuche, sich behutsam von Moskau zu lösen und die ethnische Verbindung zur Türkei zu befördern, gehört Kasachstan seit Gründung der aus Moskau gesteuerten „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) an, welche nach ihren Statuten die Sicherheit, Souveränität und territoriale Integrität der Mitgliedsstaaten gewährleisten soll und neben gemeinsamen militärischen Technologieprojekten auch der grenzübergreifenden Bekämpfung von Terroristen und Extremisten dient. Die zögerlichen Versuche Kasachstans, sich aus der russischen Umklammerung zu lösen, dürfen insofern spätestens seit 2014 als halbherzig bezeichnet werden – jenem Jahr, in dem die Putin-Doktrin jedwede Unruhe in Nachbarländern als Umsturzversuch und damit als Angriff auf Russland wertet.

Fast die Hälfte der Bevölkerung wurde Opfer Stalins

Die Diskrepanzen zwischen der kolonisierten turkmongolischen Bevölkerung und der seit der Zarenzeit erfolgten russischen Besiedlung hatte im 19. Jahrhundert mehrfach zu Konflikten geführt, welche aus Moskau brutal unterdrückt wurden. Unter den sozialistischen Machtusurpatoren führte die Zwangskollektivierung des nomadisch geprägten Volks zwischen 1928 und 1933 zum Hungertod von 1,3 bis 1,5 Millionen Kasachen. Einige Schätzungen gehen sogar von 1,7 Millionen Toten aus, was fast der Hälfte der damaligen turkmongolischen Bevölkerung entsprach. Stalin nutzte diese Situation, um missliebige Ethnien des großrussischen Reichs – darunter deutschstämmige Wolgadeutsche, Krimtataren und Juden – unter teils unmenschlichen Umständen nach Kasachstan umzusiedeln. Das seit 1990 unabhängige Kasachstan verfügt daher über zahlreiche Minderheiten, bei denen die Russen mit fast 19 Prozent den höchsten Anteil stellen.

In der Außenpolitik war und ist das Land seit seiner Gründung instabil. Einerseits hat Moskau sein Ziel nicht aufgegeben, die zentralasiatische Republik wieder in die „Russische Welt“ aufzunehmen, andererseits formuliert die Volksrepublik China historische Ansprüche und versucht, diese durch Einbindung in die Seidenstraßenprojekte zu befördern. Kasachstan selbst behauptet – ebenfalls aus historischen und ethnischen Entwicklungen – territoriale Ansprüche auf die benachbarten anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.

Aufstände der Unzufriedenheit

Ähnlich wie in den europäischen Staaten die dort bekämpften „Corona-Proteste“ durch eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit dem politischen System gespeist werden, brachte nun in Kasachstan die spürbare Erhöhung der Benzin- und Energiepreise den Unmut der Bevölkerung mit dem politischen System in den Aufstand. Schwerpunkt der dort gewalttätigen Proteste ist vor allem die frühere Hauptstadt Almaty, von 1867 bis 1921 Werny und bis 1993 Alma-Ata. Die größte Stadt Kasachstans liegt mit ihren knapp zwei Millionen Einwohnern unmittelbar an der Grenze zu Kirgisien und nahe an China. Ob und in welchem Maße Einflüsse von dort eine Rolle spielen, kann bestenfalls spekuliert werden.

Wie dem auch sei, die Proteste gegen das System Nasarbajew, die vor allem in den Regionen mit deutlicher turkmongolischer Mehrheit aufgeflammt sind, sind eine reale Gefahr für das korrupte Herrschaftssystem. So ist es naheliegend, dass Toqajew, der offenbar fürchtet, seine kasachischen Sicherheitskräfte könnten sich auf die Seite der Bevölkerung schlagen, die Mechanismen des OVKS in Kraft gesetzt und um militärischen Beistand gebeten hat.

Putins große Chance

Putin musste sich nicht lang bitten lassen. Moskau, das nach den Aufständen in Weißrussland 2020 bereits den dortigen Diktator im Amt gehalten; angesichts des türkisch-aserbaidschanischen Angriffs auf die armenisch besiedelten Gebiete in Berg-Karabach seine Truppen in Armenien stationiert und damit in beiden Fällen die feste Anbindung des jeweiligen Landes in die russisch-imperialen Strukturen gesichert hat, sieht nun die Chance gekommen, auch das rohstoffreiche Kasachstan wieder unter seine Oberhoheit zu bringen.

Straatsstreich oder Volksaufstand?
Gemeinsam mit der Spezialeinheit der kirgisischen „Skorpione“, Fallschirmjägern aus Belarus und Militärexperten aus Armenien hat Russland bislang mindestens 2.500 russische Fallschirmjäger in die Unruherepublik verlegt. Angesichts der am Vormittag (MEZ) des Freitags gehaltenen, martialischen Rede Toqajews darf davon ausgegangen werden, dass es bei diesen Einheiten nicht bleiben wird.

Toqajew signalisiert an Moskau bereits die Unterwerfung. Anders als sonst üblich wurde seine Rede nicht in kasachischer Sprache, sondern ausschließlich in Russisch gehalten. In seinen Darlegungen sprach der wankende Statthalter Nasarbajews von „20.000 Banditen, die allein Almaty attackiert“ hätten. Toqajew spricht „sogenannte freie Medien und ausländische Gestalten“ der „Komplizenschaft an den Verbrechen in Kasachstan“ schuldig. Er habe nun den Befehl gegeben, ohne Warnung mit dem Ziel zu töten jederzeit das Feuer zu eröffnen. Gleichzeitig wurden die Energiepreise gesenkt und damit bei den einfachen Kasachen der Unmut befriedigt.

Doch der Geist des Aufstands ist aus der Flasche. Vor allem im Südosten des Landes. Augenzeugen berichten von Gräueltaten auch auf Seiten der Aufständischen.

Die Welt wurde kalt erwischt

Während in Kasachstan nun alles zwischen Revolution, Bürgerkrieg, brutaler Unterdrückung, russischer Okkupation und einer Rückkehr zum brüchigen Frieden denkbar scheint, ist der Rest der Welt von den Ereignissen kalt erwischt worden.

Die Volksrepublik China, die befürchten muss, dass die russische Konkurrenz nun auch hier wieder unmittelbar an ihre Grenzen heranrückt, beschränkte sich in einem ersten Statement auf die Feststellung, es handele sich dabei um „innere Angelegenheiten“ des Nachbarlandes. Das kann bedeuten, dass sich die VRC auf das Zuschauen beschränkt. Es kann aber auch bedeuten, dass das russische Engagement dann doch als unzulässige Einmischung betrachtet wird. Ohne Zweifel könnte China jedoch damit leben, Kasachstan von der Landkarte verschwinden zu sehen – allerdings nur, wenn der östliche Teil dann künftig zu China gehört.

Straatsstreich oder Volksaufstand?
Die USA, deren Regierung offenbar bewusst ist, dass sie kaum Möglichkeiten hat, die russische Landnahme zu verhindern, begnügen sich mit der Forderung, dass die territoriale Integrität und Unabhängigkeit des Landes gewährleistet sein müsse. Nun, Putin wird nicht noch einmal so ungeschickt sein, das Land einfach zu annektieren wie seinerzeit die Krim. Ihm genügt es völlig, wenn seine Truppen dort stehen und die totalitäre Herrschaftskaste sich in seiner totalen Abhängigkeit befindet.

Deutschland und die EU melden sich mit den üblichen Beschwörungen von Menschenrecht und demokratischen Bürgerrechten zu Wort. Der Konflikt müsse auf dem Verhandlungswege mit allen Partnern am Tisch gelöst werden. Solche Töne werden ihren Weg nicht einmal bis in den Kreml, geschweige denn bis Nur-Sultan-Almaty finden.

Die Gefahr eines langanhaltenden Konflikts

Putin hat insofern freie Fahrt. Er wird das schwankende Regime des Toqajew am Leben erhalten und das revoltierende Volk mit der Begründung „ausländischer Machenschaften“ und der unmittelbaren Bedrohung der dortigen Russen und Russlands selbst im Zweifel zusammenschießen, wie er es bereits in Tschetschenien hatte machen lassen. Hat er Glück, gelingt ihm die faktische Machtübernahme ohne allzu großen Aufwand und schmutzige Finger. Hat er Pech und die turkmongolischen Aufständischen sind in der Lage, sich zu organisieren und über Freunde im Ausland zu bewaffnen, könnte ihm jedoch auch ein langer, unangenehmer Konflikt wie in Afghanistan drohen. Jedoch unterscheidet sich Kasachstan geografisch mit seinen ausgedehnten Wüsten und Steppen deutlich vom Hindukusch. Partisanenkrieg ist nur in wenigen Regionen erfolgversprechend.

Straatsstreich oder Volksaufstand?
Je nachdem, wie „sauber“ oder „schmutzig“ die offiziell als „Friedenstruppen“ bezeichneten Einheiten der russischen Militärallianz agieren werden, steht jedoch auch zu befürchten, dass radikalislamische Kräfte die Chance suchen werden, unter den nun bekämpften, jungen Kasachen neue Kämpfer zu rekrutieren. Das Muster ist bekannt aus den Kaukasus-Republiken, in denen Moskau sich mit fanatischen Glaubenskriegern konfrontiert sieht.

Insofern ist gegenwärtig vieles möglich. Nur eines ist gewiss: Freiwillig wird Putin diese Chance, die ehemalige Sowjetrepublik wieder in die Russische Welt einzugliedern, nicht verstreichen lassen. Und da niemand da ist, der ihm im zentralen Asien ernsthaft in die Parade fahren könnte, steht zumindest der russische Präsident bereits heute als derjenige fest, der für sich den größten Nutzen aus den Aufständen ziehen wird. Wohin der führen kann, äußerte bereits der Duma-Abgeordnete Sultan Hamzaew. Er fordert, das „historische Gebiet Russlands“ einfach und ohne weitere Rücksichten zu annektieren.

Oder, wie es US-Außenminister Antony Blinken in der Nacht auf Sonnabend formulierte: „Es ist eine Lehre der Geschichte, dass es, wenn Du Russen in Deinem Haus hast, manchmal äußerst schwer ist, sie zum gehen zu bewegen.“

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