In weiten Teilen der Politik, im Schulterschluss ja sogar unter sonst verfeindeten Parteien wie der Linken und der AfD, in Teilen der Medien, der Öffentlichkeit und der politischen Wissenschaften hat sich in der Frage des Verhältnisses des Westens zu Russland ein bestimmtes Narrativ festgesetzt. Es lautet kurzgefasst: Die aktuelle Politik Russlands bzw. Putins sei die (psycho-)logische Folge eines Wortbruches und Folge der Expansion des Westens nach Osten. Der Westen, näherhin die USA, die EU und im besonderen Deutschland hätten der damals, 1990, noch existierenden Sowjetunion zugesagt, auf jede Osterweiterung zu verzichten und die russischen Einflusssphären unangetastet zu lassen.
Mit der nachfolgenden Aufnahme von vormaligen Sowjetrepubliken (Estland, Lettland, Litauen) und vormaligen Mitgliedern des Warschauer Paktes (Polen, Tschechien und Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien) in die EU und in die NATO sei der Westen wortbrüchig geworden – angeblich dominiert von US-amerikanischen Hegemoniegelüsten. Russland leide seither unter Phantomschmerzen, die „russische Seele“ sei verletzt. Potenziert habe sich die russische Frustration ab 2014 noch durch Angebote des Westens an die vormalige Sowjetrepublik Ukraine, der EU und der NATO beizutreten.
Man braucht nur einmal nachlesen, was der wohl größte russische Dichter Fjodor Dostojewskij (1821–1881), an dessen 200. Geburtstag jetzt erinnert wurde, dazu geschrieben hat: Dostojewskij, der Deutschland, Frankreich, die Schweiz und Italien aufgrund zum Teil jahrelanger Reisen gut kannte, hat diese Interpretation des ideellen Verhältnisses des Westens versus Russland verfestigt. Wahrscheinlich gilt er heute noch selbst einem Putin als Ideengeber.
Aber ganz konkret und zeitgeschichtlich zum Thema „Einflusssphären“: Bis 1990 war die Ostsee weitestgehend eine Art „mare nostrum“ der Sowjetunion bzw. Russlands. Die Anrainerstaaten waren entweder neutrale Staaten (Finnland und Schweden), zu einem kleineren Teil der Küsten die Bundesrepublik und Dänemark, vor allem aber Staaten, die sowjetisch bzw. russisch oder zumindest entsprechend dominiert waren: die Sowjetunion über St. Petersburg und Königsberg, sodann über die DDR, Polen und die drei baltischen Staaten. Das ist vorbei. Russland hat Zugang zur Ostsee und damit einen eisfreien Zugang zum Nordatlantik nur noch über St. Petersburg und Königsberg (die zwischen Polen und Litauen gelegene, vormals ostpreußische, jetzt russische Exklave Kaliningrad).
Und nun kommt’s: Im Windschatten des „Ukraine“-Konflikts hat sich in zwei Anrainerstaaten der Ostsee eine neue brisante Lage ergeben. Namentlich zwischen Russland auf der einen Seite und den beiden skandinavischen Ländern Schweden und Finnland auf der anderen Seite. Beide Länder sind seit 1995 Mitglied der Europäischen Union. Beide skandinavischen Länder können sich nun sehr konkret vorstellen, Mitglied der NATO zu werden. Man höre und staune: zwei Länder, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg betont neutral-pazifistisch positionierten.
Bei einem russischen Seemanöver im August 2019 mobilisierte Putin in der Ostsee über 10.000 Soldaten sowie 69 Schiffe und 58 Flugzeuge. 2017 bereits hatte sich China mit drei Kriegsschiffen an einem kleineren russischen Ostsee-Manöver beteiligt. Schweden vermutet gar russische Begehrlichkeiten auf die schwedische Insel Gotland. Deshalb hat das Land seinen Verteidigungshaushalt um rund 40 Prozent aufgestockt. 2018 wurde die 2010 ausgesetzte Wehrpflicht wieder eingeführt. Zugleich kauft man in den USA Waffensysteme: Patriot-Luftabwehrsysteme, Black-Hawk-Hubschrauber, zudem F-35-Kampfflugzeuge als Ersatz für den veralteten eigenen Saab-340F-Kampfjet.
Wie auch immer: Mit westlichen oder gar US-amerikanischen Expansionsgelüsten, mit mangelnder Empathie gegenüber Russland oder mit Verachtung russischer Befindlichkeiten hat das nichts zu tun, auch wenn das aus Moskau gesteuerte Nachrichtenportal RT (Russia Today) all dies bereits dahinter vermutet.
Nein, es geht nicht um quasi-therapeutische Rücksichtnahme für russische Befindlichkeiten. Russland ist alles andere als eine rechtsstaatliche Demokratie. Die Gesetzgebung und die Rechtsprechung werden dort hingebogen, wie es Putin beliebt. Siehe die Verfassungsänderungen, die ihn quasi zum Präsidenten auf Lebzeiten machen. Siehe die politischen Urteile gegen Kritiker. Siehe auch die Auftragsmorde. Putin als „lupenreiner Demokrat“, das mag ja ein schöner Kalauer des Alt-Kanzlers und Gasprom-Managers Gerhard Schröder sein, mehr aber nicht.
Machen wir uns freilich nichts vor: Noch nie seit Ende des Kalten Krieges mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor rund drei Jahrzehnten war die Gefahr eines gefährlichen Krieges in Europa so groß wie heute. Gewiss gab es den Krieg auf dem Balkan, aber dieser Krieg drohte nicht zu einem gesamteuropäischen oder gar großen Krieg zu werden, wiewohl die Interessensphären der beiden militärischen Großmächte USA und Russland berührt waren.
Was sich aber derzeit im Osten Europas (geographisch eigentlich in der Mitte Europas) abspielt, hat das Zeug zu einem sehr großen Konflikt. Russland zieht an seiner Westgrenze zur ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine eine Streitmacht von – geschätzt – 100.000 Soldaten zusammen. Von heute auf morgen könnte aus dieser Drohkulisse ein Krieg auf dem Gebiet der Ukraine werden. Die Europäische Union ist da nur Zaungast, eine deutsche Außenministerin Baerbock mit ihrer Illusion einer „werteorientierten“ Außenpolitik als Weltinnenpolitik ohnehin.
Putins Widerpart ist der US-Präsident. Diese beiden entscheiden hoffentlich friedlich, wie es weitergeht. Deutschland und der EU (deren Mitglieder Finnland und Schweden sind) bleibt hier bis auf Weiteres nur der Part, sich an die USA anzulehnen.