Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche erklärte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts: »Gott ist tot.« Diese Äußerung ist so berühmt geworden, dass man sie sogar an die Wände von öffentlichen Toiletten gekritzelt findet, oft in folgender Form: »Gott ist tot« – Nietzsche. »Nietzsche ist tot« – Gott. Nietzsches Behauptung war nicht narzisstisch geprägt oder triumphierend gemeint. Sie entsprang der Befürchtung des großen Denkers, dass die jüdisch-christlichen Werte, die das Fundament der westlichen Zivilisation sind, in gefährlichem Ausmaß Gegenstand rationaler Kritik geworden waren und dass das wichtigste Axiom, auf dem sie beruhten – die Existenz einer transzendenten, allmächtigen Gottheit –, unwiderruflich infrage gestellt worden war. Nietzsche schloss daraus, dass alles bald katastrophal auseinanderbrechen würde, sowohl psychologisch als auch gesellschaftlich.
Man muss kein besonders aufmerksamer Leser sein, um zu bemerken, dass Nietzsche Gott in Die fröhliche Wissenschaft als das »Heiligste und Mächtigste, das die Welt bisher besaß«, und die modernen Menschen als »die Mörder aller Mörder« bezeichnet. Diese Beschreibung würde man nicht von einem Rationalisten erwarten, der den Niedergang des Aberglaubens feiert. Die Feststellung zeugt vielmehr von absoluter Verzweiflung. In anderen Werken, insbesondere in Der Wille zur Macht, beschreibt Nietzsche, was aufgrund dieses mörderischen Aktes im nächsten Jahrhundert und darüber hinaus geschehen wird. Er prophezeit (das ist das richtige Wort dafür), dass er zweierlei Folgen haben würde – scheinbare Gegensätze, aber untrennbar und ursächlich miteinander verbunden – und beide mit dem Tod der traditionellen Form des Rituals, von Geschichte und des Glaubens assoziiert.
Da der Zweck des menschlichen Lebens außerhalb des monotheistischen Glaubens und der sinnvollen Welt, die er entwirft, unsicher geworden ist, würden wir einen existenziell verheerenden Aufstieg des Nihilismus erleben, so Nietzsche. Alternativ würden sich die Menschen strengen, totalitären Ideologien zuwenden: Ersatzideen für die eines transzendenten Vaters aller Schöpfung. Der Zweifel, der zersetzt, und die Sicherheit, die unterdrückt: Das sind die beiden Alternativen, deren Erstarken Nietzsche nach dem Tod Gottes prophezeit.
Nietzsche und Dostojewski sahen beide voraus, dass der Kommunismus schrecklich verführerisch sein würde – eine scheinbar rationale, kohärente moralische Alternative zu Religion und Nihilismus – und dass die Folgen tödlich sein würden. Der Erste schrieb auf seine unnachahmlich scharfe, ironische und brillante Art: »In der Tat, ich wünschte, es würde durch einige große Versuche bewiesen, dass in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selbst verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde ist groß genug und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum, selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte.«
Der Sozialismus, auf den Nietzsche sich bezieht, ist nicht die gemäßigte Form, die später in Großbritannien, Skandinavien und Kanada populär war, mit ihrem manchmal ehrlichen Anliegen einer Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse, sondern der ausgewachsene Kollektivismus Russlands, Chinas und einer Vielzahl kleinerer Länder. Ob wir wirklich die »praktische Belehrung« zur Kenntnis genommen haben – die der Doktrin – als Konsequenz aus dem von Nietzsche vorausgesagten »ungeheuren Aufwand von Menschenleben«, wird sich noch zeigen.
Nietzsche war davon überzeugt, dass die Welt durch den Vormarsch der Naturwissenschaften sowohl objektiv als auch ihrer Werte beraubt worden war. Um Nihilismus und Totalitarismus zu entgehen, gab es für ihn nur einen Ausweg: das Erstarken des Individuums, stark genug, seine eigenen Werte zu formulieren, sie in die Realität zu projizieren und sich dann daran zu halten. Er postulierte, dass ein neuer Mensch – der Übermensch – nach dem Tod Gottes nötig sei, damit die Gesellschaft nicht in die Untiefen der Verzweiflung und starre politische Theorien getrieben würde. Menschen, die diesen Weg einschlagen, diese Alternative zu Nihilismus und Totalitarismus, müssten ihren eigenen Wertekosmos schaffen.
Die Psychoanalytiker Freud und Jung machten diesen Gedanken jedoch zunichte, indem sie darlegten, dass wir nicht genügend im Besitz unserer selbst sind, um bewusst Werte zu schaffen. Es deutet wenig darauf hin, dass irgendjemand die Gabe hat, sich ex nihilo – aus dem Nichts – zu erfinden, insbesondere im Hinblick auf die Begrenztheit unserer Erfahrung, die Voreingenommenheit unserer Wahrnehmung und unsere kurze Lebensspanne. Wir haben eine Natur – oder, allzu häufig, hat sie uns im Griff –, und nur ein Narr würde behaupten, dass wir genügend Macht über uns haben, um unsere Werte zu schaffen, statt zu entdecken, was wir wertschätzen.
Wir haben die Fähigkeit, spontan Offenbarungserlebnisse zu haben – künstlerisch, erfinderisch und religiös. Wir entdecken ständig Neues an uns, zu unserem Vergnügen – und auch zu unserem Verdruss, weil wir so oft von unseren Gefühlen und Antrieben überwältigt werden. Wir kämpfen mit unserer Natur. Wir verhandeln mit ihr. Aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass der Einzelne jemals fähig sein wird, die neuen Werte zu erschaffen, nach denen Nietzsche sich so sehnte.
Trotz des nicht zu leugnenden Nutzens der wissenschaftlichen Methode liegt es keineswegs auf der Hand, dass Werte, auch wenn sie subjektiv scheinen, nicht Teil der Realität sind. Der zentrale wissenschaftliche Grundsatz, den uns die Aufklärung hinterlassen hat – dass Realität ausschließlich das Reich des Objektiven ist –, bedeutet eine fatale Herausforderung für die Realität religiöser Erfahrung, wenn Letztere grundsätzlich subjektiv ist (und genau das ist sie anscheinend), aber es gibt etwas, das die Unterscheidung von Subjektivem und Objektivem kompliziert macht.
Was, wenn es Erfahrungen gibt, die typischerweise ein einzelner Mensch zurzeit macht (wie es meistens der Fall bei Offenbarungen zu sein scheint), die aber anscheinend ein sinnvolles Muster ergeben, wenn sie gemeinsam nachvollzogen werden? Das deutet darauf hin, dass etwas nicht rein Subjektives geschieht, auch wenn es nicht leicht mit wissenschaftlichen Methoden bestimmt werden kann. Es könnte stattdessen sein, dass der Wert davon so spezifisch ist – so abhängig von den Besonderheiten der Zeit, des Ortes und des Individuums, das die Erfahrung macht –, dass er nicht in der Weise festgemacht und wiederholt werden kann, wie es für wissenschaftliche Objektivität notwendig ist.
Das bedeutet jedoch nicht, dass der Wert nicht real ist: Es bedeutet nur, dass er so komplex ist, dass er noch nicht in die wissenschaftliche Weltsicht passt und vielleicht niemals passen wird. Die Welt ist ein seltsamer Ort, und es gibt Zeiten, in denen sich die metaphorische oder narrative Beschreibung, die für Kultur charakteristisch ist, und die materielle Darstellung, die wesentlich für die Wissenschaft ist, zu berühren scheinen, wenn alles zusammenkommt – wenn Leben und Kunst einander gleichermaßen reflektieren.
Die Psyche – die Seele –, die solche Erfahrungen produziert oder der Empfänger solcher Erfahrungen ist, ist zweifellos real. Der Beweis sind nicht zuletzt unsere Handlungen. Wir gehen alle grundsätzlich von der Realität unserer individuellen Existenz und unserer bewussten Erfahrungen aus und gestehen das auch anderen zu (was sonst). Psychoanalytisch orientierte Psychologen und Biopsychologen, insbesondere wenn sie sich mit Motivation und Emotion beschäftigen, nehmen vernünftigerweise an, dass dieser Existenz und Erfahrung eine biologische und physische Struktur zugrunde liegt.
Diese von Wissenschaftlern wie der Allgemeinbevölkerung gleichermaßen akzeptierten Struktur scheint darauf hinzudeuten, dass religiöse Erfahrung zu ihrer Grundfunktion gehört – und diese religiöse Funktion weist bei allen Menschen genügend Gemeinsamkeit auf, dass wir zumindest verstehen, was »religiöse Erfahrung« bedeutet –, besonders wenn wir irgendwann im Leben eine Ahnung davon bekommen haben.
Wir haben die Folgen der totalitären Alternativen gesehen, in denen das Kollektiv die Lasten des Lebens übernehmen, den richtigen Weg aufzeigen und die schreckliche Welt ins gelobte Utopia verwandeln soll. Die Kommunisten produzierten eine Weltsicht, die unvoreingenommene Menschen ebenso anzog wie neidische und grausame. Kommunismus wäre vielleicht sogar eine brauchbare Lösung für die Probleme der ungleichen Verteilung des Reichtums, die das industrielle Zeitalter kennzeichnen, wenn die hypothetisch Unterdrückten, gute Menschen wären und das herrschende Bürgertum, wie behauptet, alles Böse repräsentieren würde.
Unglücklicherweise war ein großer Teil der Unterdrückten unfähig, gewissenlos, dumm, zügellos, machtbesessen, gewalttätig, verbittert und neidisch, während ein großer Teil der Unterdrücker gebildet, fähig, kreativ, intelligent, ehrlich und fürsorglich war. Als der Wahnsinn der Entkulakisierung durch die neu gegründete Sowjetunion fegte, waren es rachsüchtige und neidische Mörder, die Eigentum umverteilten, während es zum größten Teil kompetente und verlässliche Bauern waren, denen es mit Gewalt genommen wurde. Eine Folge der Umverteilung von Glück war der Hungertod von sechs Millionen Ukrainern in den 1930er-Jahren, inmitten eines der fruchtbarsten Länder der Welt.
Die anderen großen Verbrecher des 20. Jahrhunderts, die deutschen Nationalsozialisten, waren ebenso mächtige und gefährliche Ideologen. Es wurde behauptet, dass Hitlers Gefolgsleute von Nietzsches Philosophie beeinflusst waren. Diese Behauptung hat vielleicht auf perverse Art einen gewissen Wahrheitsgehalt, denn sie versuchten zweifellos, ihre eigenen Werte zu schaffen, aber nicht wie die Individuen, deren Heraufkommen dem Philosophen vorschwebte. Es trifft wohl eher zu, dass Nietzsche die kulturellen und historischen Bedingungen analysierte, die den Boden für das Aufkommen von Ideen wie die der Nazis bereiteten.
Die Nazis versuchten einen nachchristlichen, postreligiösen perfekten Menschen zu schaffen, den idealen Arier, und formulierten das Ideal gewiss nicht in Übereinstimmung mit Judentum oder Christentum. Den perfekten Arier stellten sich die Nazis zweifellos als eine Art »Übermensch« vor. Das bedeutet jedoch nicht, dass das postulierte nazistische Ideal Ähnlichkeit mit dem Ideal Nietzsches hatte. Ganz im Gegenteil: Nietzsche war ein leidenschaftlicher Verfechter von Individualität und hätte die Idee eines vom Staat geschaffenen Übermenschen absurd und abschreckend gefunden.
Auszug des Kapitels „Geben Sie Ideologien auf“ aus:
Jordan B. Peterson, Beyond Order – Jenseits der Ordnung. 12 weitere Regeln für das Leben. FBV, Hardcover mit Schutzumschlag, 400 Seiten, 23,00 €.