Tichys Einblick
Vorsicht Studie

Deutsche sind klare Gewinner der Globalisierung

Globalisierung darf nicht verteufelt, aber schon gar nicht heilig gesprochen werden. Günther Oettinger hatte Recht in seiner berühmten englischsprachigen Rede: „Äwrissing hängs tugessa!“

Liebe Einblicker, ich habe in der letzten Woche (9.9.2016) einen Artikel in der WELT gelesen und bin an Austausch darüber interessiert. Der Grund: Ich finde den Artikel samt Kommentar dermaßen dünn, halbseiden und stellenweise sogar beknackt, dass ich händeringend nach Welt-Fürsprechern suche, die mir weise verklickern, dass ich doof bin und warum ich falsch liege. Ich komme nämlich im Zweifel besser klar mit eigenen Unzulänglichkeiten, als mit grobem Unfug auf der Titelseite (!) eines der größten Blätter des Landes. Die Überschrift des Artikels habe ich mal ganz keck auch zur meinigen gemacht – mein erster Gedanke beim Lesen: Das kann doch nicht wahr sein!

„Seit 1990“, so die Unterzeile in der Welt, „ist das Pro-Kopf-Einkommen in der Bundesrepublik um 27.000 Euro gewachsen, besagt eine Studie“. Aha, eine STUDIE besagt das also, und der Oberkellner dieser Studie folgert im Text, Deutschland könne sich daher „klar zu den Gewinnern des Globalisierungsprozesses zählen“. Der Artikel stützt sich echt fast ausschließlich auf besagte Zahl, die im Vergleich zu den Mini-Zuwächsen der mickrig aus der Wäsche glotzenden anderen Industrienationen (Japan, USA; China) noch imposanter wirken soll. Grätschen wir an dieser Stelle ruhig schon mal beherzt dazwischen:

Auch wenn wir davon ausgehen, dass die Zahlen stimmen (warum sollten sie auch nicht), so bringt ein Einkommenszuwachs von was weiß ich wie vielen Prozent doch gar nichts, wenn die Lebenshaltungskosten im gleichen (Zeit-)Raum in gleichem oder gar höherem Maße steigen. Zudem macht mich jeder Durchschnittswert (und den haben wir hier ja wohl) per se misstrauisch: Bill Gates und sein Chauffeur sind durchschnittlich beide Milliardäre. Got it? (Dies Beispiel hab’ ich mal irgendwo gelesen; ich bin sicher, viele von Ihnen können aus dem Stegreif noch bessere anführen.)

Sind meine Einwände bis hierhin richtig, vor allem der mit den Lebenshaltungskosten? Oder ist das alles so unangebracht, dass es zurecht im Welt-Artikel keine Berücksichtigung findet? Helfen Sie mir doch bitte! Noch mal: Es werden im Grunde keine weiteren Belege angeführt für die steile Überschrift, ein kleiner Sidekick noch zu unseren tollen Exportüberschüssen, ein bisserl Namedropping („Ifo-Institut“, „Bertelsmann-Stiftung“, „Globalisierungsdividende“), um einen auf wichtig zu machen, das war’s. Nix sonst, wirklich NIX! (Fast die Hälfte der Titelseite wird damit gefüllt – wofür ich fast schon wieder Anerkennung zu geben bereit bin.) Nach der Logik der Welt dürfte klar sein, wann es den größten Wohlstandszuwachs in der Menschheitsgeschichte gegeben hat: Zur Zeit der Hyperinflation in der Weimarer Republik, da hat ein deutscher Hafenarbeiter nämlich schon mal 500 Mio Reichsmark am Tag verdient, x Mal so viel wie in der Woche davor. Wollen wir das der Bertelsmann-Stiftung mal stecken? Vermutlich täte die dann schreiben „Von so viel mehr im Portemonnaie wie damals in Deutschland können Chinesen heute nur träumen“ – und die Welt täte das dann drucken.

Praktischerweise kommentiert der Autor des Artikels nebendran gleich höchstselbst. Die Quintessenz seines Kommentars (von mir formuliert): Eine Studie beweist, wie gut es uns geht, also müssen wir mal unsere Wahrnehmung überprüfen! Tja, äh, wird nicht UMGEKEHRT ein Schuh draus? Ich sage: Wenn Wahrnehmung und Studie auseinandergehen, dann müssen wir die STUDIE prüfen und nicht unsere Wahrnehmung! Wer schwitzend durch die Sahara läuft, wird nicht anfangen zu frieren, wenn eine Studie besagt, dass es kalt ist. Oder doch? Sind wir schon so weit gekommen?

Bevor das jetzt abdriftet: Mir ist schon klar, dass man gewiss mit etwas Geschick „nachweisen“ kann, dass die Lebenshaltungskosten in Deutschland seit Jahrzehnten stabil sind – doch ich glaube das einfach nicht, denn meine Wahrnehmung ist eine andere. Vermutlich wird in den Warenkörben der Globalisierungs-Gourmets das folgende Erlebnis fehlen, das ich mit meiner Tochter im letzten Jahr im Kino hatte:

Für zwei Karten „Biene Maja“ inkl. 3-D-Brille-Leihgebühr und äußerst spärlichem Ernährungsdrumherum zahlte ich fast 40 Euro! Denken Sie sich mal zurück in die Zeit der Kanzlerschaft Schröder (das genügt schon, bis Kohl müssen wir gar nicht gehen), stellen Sie sich da einen Vater mit kleinem Kind an einer deutschen Kinokasse vor, und eine junge Studentin sagt: „So, 2 x Biene Maja, 2 Eis-Konfekt, 2 Becher Wasser macht zusammen 80 D-Mark.“ (Ich erlaube mir, zu runden.) Da hätte doch jeder gedacht, dass gleich Cherno Jobatey, Harald Schmidt, Paola, Kurt Felix und Guido Cantz gleichzeitig um die Ecke kommen. Obwohl: Hat Guido Cantz damals schon „Verstehen Sie Spaß?“ moderiert? Sind Sie noch da, liebe Einblicker?

Der Welt-Autor schließt seinen Kommentar mit den Worten: „Wir haben nicht die Wahl, ob es die globalen Märkte gibt oder nicht. Wir haben aber die Wahl, ob wir uns abschotten oder mitspielen.“ Ich ergänze demgemäß: „Wir haben nicht die Wahl, ob es die Welt am Kiosk gibt oder nicht. Wir haben aber die Wahl, ob wir sie kaufen oder links liegen lassen.“ Ich entscheide das je nach Einzelfall und möchte meinerseits abschließen mit einem putzigen (unfreiwilligen) Lehrstück zum Thema aus meinem Metier, dem deutschen Kabarett:

Ein geschätzter Langzeit-Kollege von mir namens Heinz Gröning aus Köln hat eine kleine Nummer, die er – trotz vieler, vieler guter neuer Sachen – seit knapp 20 Jahren zum Glück immer mal wieder auf der Bühne spielt. Es geht darin (im weitesten Sinne) um große Literatur und kleine Alltagsphänomene. Bereit? Heinz sagte vor 20 Jahren im Rahmen seiner Darbietung:

„Im Wald, da sind die Räuber. Kleines Kännchen Kaffee 6 Mark 40.“

Der Witz entsteht dadurch, dass Kollege Heinz einen übertrieben hohen Preis fürs Kännchen Kaffee nimmt, der aber noch so einigermaßen in Sichtweise der „echten“ hohen Kaffeekännchenpreise ist, denn ansonsten wär’s wieder zu absurd. Wie gesagt, diese Nummer spielte er auch in den Folgejahren immer wieder, und er spielt sie auch heute noch. Das Gagprinzip ist immer exakt das gleiche geblieben (natürlich), als Comedian muss er das beherzigen, wenn er Lacher ernten will, er kann nicht eine Wunschwelt oder vermeintliche Statistiken zugrunde legen. Wie spielt er die Nummer heute? Sagt er „Kleines Kännchen Kaffee 3 Euro 20“? Nein, sagt er nicht. Ich hab’s beobachtet: Der Preis hat sich der Realität angepasst, ist Schritt für Schritt mit den Jahren gewachsen, damit der Gag funktionieren kann. Der Heinz-Umrechnungsfaktor liegt heute bei 1:1 – mal wohlwollend geschätzt …

Bitte fürs Kännchen Kaffee jetzt aber kein Fass aufmachen! Herrlich schiefes Bild, oder? Ich bin kein Globalisierungsgegner, im Gegenteil! Jedenfalls dann, wenn wir unter dem Begriff statt Merkelschem Allerlei in erster Linie das Folgende meinen: internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit unter einigermaßen ähnlich tickenden Staaten, das Abbauen von Handelshemmnissen bei strenger Wahrung ethischer Grenzen, das sinnvolle Schaffen und Einhalten gemeinsamer, verbindlicher Normen, das Abbauen von Bürokratie. Globalisierung darf nicht verteufelt, aber schon gar nicht heilig gesprochen werden. Günther Oettinger hatte Recht in seiner berühmten englischsprachigen Rede: „Äwrissing hängs tugessa!“

Mehr zu Ludger unter www.ludger-k.de

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