Am Heiligabend lief das Segelschiff „Wave Dancer“ einen kleinen Ankerplatz auf der Peloponnes-Halbinsel Mani an. Ein Bürger informierte die Küstenwache, unverzüglich rückten Kräfte von Land und von Wasser aus an. Auf dem Schiff fand man 92 Migranten, alle männlich, 54 davon angeblich minderjährig, sämtlich ohne Reisepapiere unterwegs. Erst nach einer Suchaktion auf dem Festland konnten drei junge Männer festgenommen werden, die von den Bootsmigranten als ihre Schlepper identifiziert wurden. Ihnen wird die Herbeiführung des Schiffbruchs und die vorsätzliche Tötung in mehreren Fällen vorgeworfen.
Am 25. Dezember verunglückte ein weiteres Schiff vor Paros, wobei 63 Migranten gerettet wurden. Insgesamt wurden so knapp 260 Migranten innerhalb von drei Tagen durch die griechischen Behörden gerettet und versorgt, während einige Menschenleben unrettbar verloren sind. Die Inselbewohner reagierten – zumal an Heiligabend – mit Betroffenheit und Anteilnahme am Schicksal der Migranten. 16 Menschen starben, darunter drei Frauen und ein Neugeborenes.
„Die Schiffsunglücke sind Folge der EU-Politik“
Aber auch auf Paros, das bisher von der illegalen Migration eher unbelastet war, ist vielen klar, dass es bei dem beobachteten Phänomen um die moderne Form des „Sklavenhandels“ geht, wie der Lokalpolitiker Kostas Rokonidas sagte. Unglücklicherweise sei Griechenland einer gemeinsamen EU-Migrationspolitik unterworfen, Menschenleben würden geopolitischen Interessen geopfert. Das ganze griechische Volk müsse gegen eine solche Politik aufstehen, die Menschen auf fatale Weise zu Tode kommen lässt. Und natürlich müssen die Migranten umgehend von der Insel verschwinden, nicht zuletzt weil die Insel selbst keine Strukturen für die Versorgung der Migranten besitzt. „Die Schiffsunglücke sind Folge der EU-Politik“, so fasst die Mitteilung der „Volks-Sammlung Paros“ die Ereignisse zusammen. Das lokale Wahlbündnis ist der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) eng verbunden.
Inzwischen haben sich verschiedene Routen herauskristallisiert, die bald nördlich bei Lesbos und Chios, bald weiter südlich bei Kos und Rhodos beginnen und dann entweder über die Kykladen oder südlich von Kreta laufen, um sich hinter Kythera zu vereinigen, von wo aus es in Richtung des italienischen Stiefels weitergeht. Doch so weit kommen einige der Kähne gar nicht erst. 1973 kam ein griechisches Lied heraus, das so unverhofft zur Prophezeiung wird: „Nach Kythera werden wir nie gelangen, / das Linienschiff haben wir verpasst“, heißt es da, und weiter: „In den Wellen der Ägäis gehen wir verloren, / zwei verstummte Wellen sind auch wir“ (für Interessierte hier zu hören).
Auffällig ist, dass die griechische Küstenwache die meist größeren Schiffe nicht schon im kleinasiatischen Küstengebiet aufgreift. Vielleicht liegt das an einer Konzentration auf die eigenen Inseln und die Meerengen im Umkreis der kleinasiatischen Küste. Daneben stellt sich die Frage, was Italien an dieser Stelle tun könnte, um die eigene Anziehungskraft zu vermindern. Angesichts der immer neuen Vorkommnisse an beliebigen Küstenabschnitten des Landes scheint die griechische Regierung aber nun an einer weiteren Front zum Handeln bereit. Man sieht die erzwungenen Rettungseinsätze nicht länger als ein Schicksal an, dem man machtlos unterworfen wäre.
Athen verdeutlicht seine kritische Position zum Thema illegale Migration auch durch einen robusteren Umgang mit den Verunglückten und ihren Angehörigen. Laut der NGO „Watch the Med“ (Betreiberin des dubiosen Inforufs „Alarm Phone“ mit dem Motto „Bewegungsfreiheit für alle“) haben Angehörige der Verunglückten in Deutschland, Schweden, Österreich und Frankreich versucht, Einzelheiten von den griechischen Hafenbehörden zu erfahren und die Migranten eventuell durch DNA-Proben zu identifizieren. Die Angehörigen wurden erst an das Marineministerium, dann an die jeweiligen Botschaften ihrer Herkunftsländer oder Interpol weiterverwiesen. „Watch the Med“ geht von bis zu 40 Todesopfern insgesamt aus.
Syriza: Regierung tut so, als könne sie „Thema von weltweiten Dimensionen“ im Alleingang lösen
Laut der Efimerida ton Syntakton hatte die Küstenwache in früheren Fällen direkt Auskunft gegeben. Nun macht die griechische Regierung – leise aber eindeutig – klar, wer ihrer Auffassung nach für die Gestrandeten und die Toten zuständig ist: entweder die Herkunftsländer selbst oder aber die europäische Polizeibehörde Interpol. Die illegale Migration wird damit zum internationalen Vorfall oder gar zur Kriminalität erklärt. Was sie jedenfalls nicht mehr ist, so viel wird aus den kleinen Neuerungen Athens deutlich: ein Fürsorgefall für den von ihr belagerten Staat. Ein Pressesprecher versicherte nun, dass die Küstenwache keine Identifikation durch DNA-Nachweis vornehmen könne. Dafür seien ebenfalls die jeweiligen Landesbotschaften zuständig.
Natürlich hängte sich auch die radikal-linke Oppositionspartei Syriza an diese Kritik dran. Die Todesopfer bestätigen laut der Parteizentrale das „Scheitern der Regierung“ in der Migrationsfrage. Die Regierung spiele täglich mit Menschenleben, tue so, als habe sie ein „Thema von weltweiten Dimensionen“ im Alleingang gelöst. Tatsächlich habe die konservative Regierung den Booten freies Geleit in der Ägäis gegeben. Die Folge seien die gesehenen Unglücke. Stattdessen solle man lieber auf eine gemeinsame Politik der EU setzen.
Im Windschatten von Weihnachten: Neue EU-Hilfen an Türkei bewilligt
Migrationsminister Notis Mitarakis erinnerte an die ungeschützten Grenzen der Jahre 2015 bis 2019, als Syriza die Zügel in der Hand hielt. Die Regierung Tsipras habe die Ägäis damals in ein Massengrab verwandelt. Man könne es nicht noch einmal zulassen, dass Griechenland zum Einfallstor nach Europa werde, verfolge eine strikte, aber gerechte Migrationspolitik. Hingegen beuteten Schleppernetzwerke das „menschliche Leid“ aus, um Migranten aus der sicheren Türkei in die EU zu verfrachten. Vor allem die Türkei rief er daher auf, die illegalen Ausreisen endlich zu unterbinden. Das sehe auch die gemeinsame Erklärung mit der EU vor, die dieses Jahr gegen Zahlung weiterer EU-Beihilfen erneuert wurde. Im Juni hatte Ursula von der Leyen ein Drei-Milliarden-Euro-Programm angekündigt, das bis 2023 ausgezahlt werden soll.
Kurz vor Weihnachten hatte die EU 530 Millionen Euro für die Beschulung und höhere Bildung Hunderttausender Migranten in der Türkei bereitgestellt. Das reicht bis zu Stipendien für Hochschulstudien (alle Ausgaben hier). Nachbarschafts- und Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi sieht dies als „den Schlüssel für die zukünftigen Berufsaussichten“ der Migranten. Noch im Mai hatte Várhelyi von einem „Tiefpunkt“ im Verhältnis der Türkei zur EU gesprochen, nachdem Erdogan die österreichische Solidarität mit Israel kritisiert hatte. Doch die EU scheint sich in irgendeiner Weise für die Migranten in der Türkei verantwortlich zu fühlen, und zwar noch bevor sie ein Boot oder Segelschiff Richtung Westen betreten. Noch vor den eigenen Grenzen scheint man sich ein Heer von für den hiesigen Markt allenfalls Halbgebildeten heranzuziehen.
Daneben wird auch der türkische Grenzschutz im Osten des Landes bezuschusst, auch türkische Aufnahmeeinrichtungen und der Schutz der türkischen Flughäfen werden kofinanziert. 30 Millionen Euro flossen vor Weihnachten für diese Zwecke. Und auch die türkische Küstenwache bezieht seit Längerem EU-Mittel. Könnte, ja müsste nicht an diesem Punkt eine (zweifellos fiktive) EU-Diplomatie ansetzen, um den wilden Überfahrten quer durch die Ägäis bis nach Kalabrien ein Ende zu setzen? Die Türkei ist in ihrem Inneren übrigens durchaus in der Lage, Pressionen gegen missliebige Organisationen auszuüben, wie die Sperrung von 770 Konten von Menschen mit Bezug zu mutmaßlichen Terror-Organisationen zeigt. Dass ein ähnliches Verfahren auf Schlepperorganisationen und in der Türkei operierende NGOs angewandt würde, ist vermutlich nicht zu erwarten.