In der Außenpolitik ist der Bildungsnotstand unserer Politiker besonders gefährlich. Die Unkenntnis der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Handelns anderer Mächte endet unweigerlich im moralpolitischen Gut-oder-Böse-Denken. Die Grenzen des eigenen Denkens und Handelns werden nicht erkannt und damit die Grenzen des Möglichen überdehnt. Aktuell zeigt sich dieses Drama insbesondere im Verhältnis des immer noch universalistisch gesinnten Westens zu dem auf seinen Großmachtstatus innerhalb einer multipolaren Weltordnung bestehenden Russland.
Durch den Aufmarsch russischer Truppen an den Grenzen zur Ukraine seit dem November 2021 haben sich die Konflikte zwischen dem Westen und Russland um die künftige Weltordnung zugespitzt. Putin scheint mit dieser Drohung Sicherheitsgarantien erreichen zu wollen, wonach der Westen die Ukraine nicht in die Nato aufnehmen wird und die im Minsker Vertrag ausgehandelten Autonomierechte für den Donbass umgesetzt werden.
Ähnliches gilt für Weißrussland, den Südkaukasus und die Moldau, aber nicht für das Baltikum oder Polen, da diese nicht dem orthodoxen Kulturkreis angehören. Angesichts des heute nicht mehr ideologisch, sondern kulturalisch geprägten Machtdenkens Moskaus fallen sie nicht mehr in ihre Einflusssphäre. Von daher hatte der Nato-Beitritt dieser Staaten nicht annähernd die Bedeutung für Moskau wie die Androhung eines künftigen Beitritts der Ukraine.
Gerechtfertigt sind derlei geopolitische Ansprüche nur unter der Annahme, dass die Stabilität einer die gesamte Region prägenden Großmacht eine sinnvolle Ordnungsform darstellt. Diese Annahme ist angesichts des Chaos im Nahen Osten, wo eben eine solche ordnende Großmacht über allen Mächten fehlt, nicht von der Hand zu weisen. Demnach läge es sogar im Interesse aller anderen Mächte, dass es solche, die jeweiligen Großregionen stabilisierenden Mächte gibt. Aus der multipolaren Perspektive Moskaus – oder auch Pekings – ist hingegen die Nichtanerkennung ihrer Einflusssphäre gleichbedeutend mit dem westlichen Streben, die ganze Welt als westliche Einflusssphäre zu betrachten.
Russlands Großmachtstatus ist zudem noch durch seine wirtschaftliche Schwäche prekär geworden. Auch deshalb hat es sich mit China als dem kleineren Übel verbündet. Beide sehen sich heute im gemeinsamen Abwehrkampf gegen die westliche Hegemonie. Im geopolitischen Kräftedreieck zwischen den USA, China und Russland hat Russland durch seine Mittellage die schlechtesten Karten. Wirtschaftlich betrachtet ist es nur noch ein Juniorpartner Chinas. Aber China stellt ebenfalls eine Bedrohung der russischen Territorialität da. Niemand kann wissen, ob und wann sich China die äußere Mandschurei von Russland zurückholen will.
Das Großraumdenken steht in der Geistestradition eines Carl Schmitt, hat aber auch eine demokratische Adaption in der Realpolitik von Henry Kissinger und Richard Nixon gefunden, die die kommunistischen Mächte vor 1990 in ein multipolares Weltordnungskonzept eingebunden hatten. Die damit verbundenen Abgrenzungen ermöglichten die friedliche Koexistenz auch von einander ideologisch inkompatiblen und feindseligen Mächten. Dies sollte – unter der Voraussetzung eines Abschieds vom Universalismus – auch für die kulturell inkompatiblen Mächte unserer Zeit möglich sein.
Kein Ende des Universalismus
Nach dem Untergang der Sowjetunion nahm der in unserer Geistestradition angelegte, aber durch die Bipolarität des Kalten Krieges ausgebremste westliche Universalismus volle Fahrt auf, bis an den Hindukusch und in den Irak. Die Folgen sind bekannt, aber offenkundig noch immer nicht hinreichend verstanden.
Dem aufklärerischen Universalismus zufolge gehören die Werte des Westens der ganzen Menschheit. Menschenrechte gelten als „Rechte aller Menschen“, unabhängig von Ort und Zeit. So steht jedem Volk, unabhängig von seiner geostrategischen Lage, Religion und Geschichte ein Selbstbestimmungsrecht darüber zu, welchem Kulturkreis und Mächteverbund es angehören will. Rücksichtnahmen auf die geostrategischen Interessen Russlands wären demnach Verrat am Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer.
Ein Denken in Einflusssphären gilt dem Westen als völkerrechtswidrig, vorgestrig und unmoralisch. Während in früheren realpolitischen Denkschulen auch die Interessen des Gegners mitgedacht wurden, lehnt der moralische Universalismus die Interessen an einer multipolaren Weltordnung rundweg ab. Er will die verbliebenen Konflikte in multilateralen Verhandlungen – durch gegenseitige Aufklärung – aufgehoben sehen, indem möglichst alle mit allen verhandeln, immer auf der Suche nach dem besseren Argument und letztlich zum Wohl der „Einen-Welt“.
Im Kampf um die Weltordnung kann sich der Westen auf das Völkerrecht berufen. In der Ukraine stehen wir jedoch schon vor der Komplikation, dass sich auch das meist russisch geprägte Volk des Donbass auf Selbstbestimmung gegenüber dem ukrainischen Volk beruft. Auch universale Rechte können einander widersprechen, sobald es konkret wird.
Während der Westen Menschenrechte primär als individuelle Freiheitsrechte auslegt, stehen in kollektivistisch geprägten Kulturen die Pflichten des Menschen gegenüber der jeweiligen Gemeinschaft im Vordergrund. Menschenrechte werden hier aus den Pflichten abgeleitet, am deutlichsten in der Scharia, wo sie nur unter Vorgabe der Gottesgesetze gültig sind.
Gerade weil diese geistesgeschichtlich-kulturellen Prägungen den gegenwärtigen Außenministern kaum bewusst zu sein scheinen, sind sie unbewusst umso mehr von diesen abhängig und können ihre eigenen, schon gar nicht die geokulturellen und strategischen Kategorien der Gegenseite reflektieren und überwinden.
Wie wird dies ausgehen? Schlimmstenfalls könnte das sich hochschaukelnde gegenseitige Unverständnis im Krieg enden, obwohl vermutlich niemand im Westen für den Donbass in den Dritten Weltkrieg ziehen will. Vermutlich wird der westliche Universalismus nur einmal mehr ins Leere laufen, dabei allerdings durch die Sanktionen weiteren wirtschaftlichen Schaden anrichten.
Die halbjährlich zu verlängernden und einstimmig vom Außenministerrat zu beschließenden Russland-Sanktionen der EU sind ein zweischneidiges Schwert, welches auch die eigene Wirtschaft zum Bluten bringt. Zudem sind sie vergebens. Für die Ukraine besteht keine Aussicht, die Krim zurückzuerhalten. Angesichts der Energieabhängigkeit Deutschlands vom russischen Gas drohen sie aber unsere Selbstbehauptungsfähigkeit zu gefährden.
Föderalisierung als einziger Ausweg
Jegliche Art von Universalismus ist mit den Macht- und Einflusssphären der anderen Weltmächte inkompatibel und daher friedensgefährdend. Dies gilt auch für die Umma-Ansprüche des Islam und für den wirtschaftlichen Globalismus der Chinesen – einer gewissermaßen profanierten Variante des Werteuniversalismus. Der Westen und Russland hätten sich diesen beiden Herausforderkulturen gemeinsam entgegenstellen sollen, dies hätte ihre Chancen auf Selbstbehauptung deutlich erhöht.
Welche Wege zueinander wären denkbar? Die ukrainische Gesellschaft will offenbar keinem russischen Machtzentrum mehr zugehörig sein. Deshalb wäre es gut gewesen, wenn Russland die Ukraine als neutralen Player anerkannt hätte. Das wäre für den Westen und die Ukraine die optimale Lösung, aus Sicht des russischen Multipolarismus käme dies einer Kapitulation gleich. Ein Insistieren auf eine solche Lösung ist daher ausweglos.
Hinsichtlich des Donbass waren im sogenannten Normandie-Format zwischen der Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland bei humanitären und technischen Fragen einige Fortschritte erzielt worden: Waffenstillstand und Gefangenenaustausch, Truppenentflechtungen an der Frontlinie und Minenräumung. All diese Fortschritte brachten aber keine Kompromisse im Hinblick auf den geostrategischen Grenz- und Zugehörigkeitskonflikt.
Solche Kompromisse könnten nur durch eine Föderalisierung der Ukraine gefunden werden, wie es von Putin vorgeschlagen, aber vom ukrainischen Präsidenten Selenskyi abgewiesen wurde. Eine Föderalisierung mit hoher Autonomie von kulturell differenten Regionen wäre ein Weg, um mit der Verstrickung und dem Zusammenprall von Kulturen einerseits sowie mit den geostrategisch-weltpolitischen Interessen andererseits umzugehen.
Hinsichtlich solcher Macht-Sharing-Modelle sind in der Geschichte die merkwürdigsten Konstruktionen gefunden worden. Letztlich wird es auch im Ringen um die Zugehörigkeit Taiwans zur Volksrepublik China keinen anderen friedlichen Ausweg geben, denn auch hier prallen westlicher Universalismus und ethnozentrisch-nationalistisches Denken, in diesem Falle der Volksrepublik China, unversöhnlich aufeinander.
Auch wenn der Vergleich – wie alle Vergleiche – hinkt. Es sollte einmal darüber nachgedacht werden, dass die Schweiz ihre Multiethnizität einerseits durch starke Föderalisierung nach innen und andererseits durch politische Neutralität gegenüber den sie umgebenden konkurrierenden Großmächten zu sichern vermochte. Hätten sich etwa die Deutschschweizer irgendwann zu sehr nach Deutschland hin orientiert, wären die Romanen aus der Eidgenossenschaft ausgeschieden.
Statt sich – wie es nach früheren Wahlen in der Ukraine geschah – abwechselnd auf die russische oder europäische Seite zu schlagen und sich darüber gegenseitig zu zerreißen, hätten die Ukrainer und ihre selbsternannten Schutzmächte einen Schritt zurücksetzen, in die Geschichte blicken und sich gemeinsam auf die Suche nach dritten föderalen Wegen begeben sollen.
Prof. Dr. Heinz Theisen ist Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Köln. Veröffentlichungen unter anderem: „Der Westen und die neue Weltordnung“, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2017; im März 2022 erscheint vom Autor: „Selbstbehauptung. Warum sich Europa und der Westen begrenzen müssen“, Olzog edition im Lau Verlag, Reinbek.