Tichys Einblick
TE-Interview

Blackout-Experte: „Risiko ist so hoch wie nie zuvor“

Der Blackout-Experte Herbert Saurugg warnt: Derzeit kämen viele Einzelrisiken für einen länderübergreifenden Stromausfall zusammen. Etwa gebe es eine massive IT-Sicherheitslücke.

TE: Herr Saurugg, im August rechneten Sie im TE-Interview mit einem europaweiten Blackout binnen fünf Jahren. Hat sich das Risiko seither noch weiter erhöht?

Herbert Saurugg: Ja, ich denke schon. Aus fünf Gründen: Erstens könnte Omikron zu einer Quarantäne und Erkrankungswelle führen. Ein Drittel bis ein Viertel des Personals könnte in lebenswichtigen Infrastrukturen fehlen. Zweitens hat sich der Strompreis innerhalb eines Jahres verzehnfacht. Das ist ein Anzeichen dafür, dass nicht immer genügend billige Kraftwerksleistung vorhanden ist. Drittens gehen bis 31. Dezember drei Atomkraftwerke mit 4 Gigawatt Leistung in Deutschland vom Netz. In Frankreich fehlen 6 Gigawatt, weil mehrere Atomkraftwerke kurzfristig und ungeplant gewartet werden. Gestern (am 21. Dezember) hat Frankreich deswegen so viel Strom wie nur möglich importiert.

Hat Deutschland nicht noch eine Reserve an Kohle- und Gaskraftwerken?

Ja, aber die Kohlekraftwerke sind bereits älter und störanfälliger. Und auch bei den Gaskraftwerken gibt es Probleme, was mich zu meinem vierten Punkt bringt.

Die leeren Gasspeicher?

Richtig. Die Gaslagerstätten sind derzeit so gering gefüllt, wie lange nicht mehr – obwohl der Bedarf in diesem Winter höher sein dürfte als sonst. Ab einem Füllstand von 30 Prozent kann nicht mehr die volle Leistung entnommen werden. Selbst RWE warnte kürzlich, dass einzelne Gaskraftwerke in Nordrhein-Westfalen in den kommenden drei Monaten nicht immer Strom produzieren könnten.

Auch Analysten von Goldman Sachs warnten kürzlich in einem Gasmarktbericht vor einem Blackout im Winter.

Das stimmt. Dazu kommt noch, dass derzeit kein Gas über die Jamal-Europa-Pipeline kommt. Ob das an einer Kältewelle in Russland oder an politischen Motiven Putins liegt, kann ich nicht sicher sagen.

Russland hat ja auch seine Düngerexporte eingestellt, weil Düngemittel aufgrund der steigenden Erdgaspreise sehr knapp und teuer geworden sind.

Durch das extrem teuer gewordene Erdgas fehlt auch CO2, das in der Lebensmittelherstellung gebraucht wird. Das könnte wie in Großbritannien zu Versorgungsengpässen führen. Wenn Dünger im nächsten Jahr knapp sind, könnte im Jahr 2022 die Ernte geringer ausfallen. Besonders die Dritte Welt wäre betroffen. Bei uns dürften die Lebensmittelpreise steigen.

Und was ist der fünfte Grund, warum sich die Lage zuspitzt?

Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik hat die Warnstufe Rot ausgerufen. Das geschieht extrem selten. Grund ist eine massive Sicherheitslücke bei der Schwachstelle Log4Shell. Das belgische Verteidigungsministerium wurde über diese Schwachstelle bereits angegriffen und lahmgelegt. In der Summe heißt das: Es kommen sehr viele Einzelrisiken zusammen. Das Blackout-Risiko ist so hoch wie nie zuvor. Das muss nicht heißen, dass es tatsächlich zu einem länderübergreifenden Strom- und Infrastrukturausfall kommt. Sollte aber eine Kältewelle im Januar und Februar über uns hereinbrechen, was wir bislang nicht wissen, könnte sich die Situation noch weiter verschärfen.

Könnten wir Strom in diesem Winter importieren?

Momentan gibt es keine wesentlichen Importkapazitäten. Frankreich war meistens Exporteur, doch die Franzosen fallen derzeit aus.

Der Eon-Chef sagte kürzlich in einem Interview, er rechne nicht mit Blackouts, sondern man werde im Notfall ganze Städte vom Netz nehmen. Sagt er das aus Furcht vor Konsequenzen oder kommen wir tatsächlich um den Worstcase herum, wenn in München oder Berlin die Lichter ausgehen?

Meine Wahrnehmung ist auch, dass man viel mehr mit Brownouts rechnet – also Strommangellagen, bei denen man Flächenabschaltungen durchführen muss. Letztendlich hängt es von der Situation ab: Wenn sich eine Zuspitzung abzeichnet – etwa wie jetzt beim Gas – und die Politik rechtzeitig Verbraucher vom Netz nimmt, kann man einen Blackout vermeiden. Aus meiner Sicht gibt es aber noch immer ein Restrisiko, weil das Stromnetz ein komplexes System ist, bei dem kleine Störungen Schneeballeffekte auslösen und das ganze System kollabieren lassen können. Unter anderen Umständen hätte die Netzauftrennung vom vergangenen Januar bereits in einer Katastrophe enden können. Wir können das nicht ausschließen. Mein Punkt ist: Der Schaden eines Blackouts wäre so groß, dass es fahrlässig wäre, dieses Risiko zu ignorieren. Entscheidend wird auch sein, wie die Öffentlichkeit auf den ersten Brownout reagiert.

Warum?

Derzeit halten die meisten Bürger Brownouts oder Blackouts für kein realistisches Szenario. Ich glaube, dass es nach dem ersten Brownout ein Umdenken geben wird. Falls das aber nicht passiert, ist ein Blackout sehr wahrscheinlich.

Was könnte die Politik noch tun, um das Ruder herumzureißen?

Die drei Atomkraftwerke werden ab 1. Januar abgerissen – die sind definitiv verloren. Bei den restlichen drei, die im Jahr 2022 vom Netz gehen, wäre vielleicht noch eine Laufzeitverlängerung möglich, aber man müsste viel Geld in die Hand nehmen, um das notwendige Personal und Material zu bekommen. Die Politik müsste ehrlich kommunizieren und auch einen Shitstorm riskieren. Sie müssten zur Eigenvorsorge auffordern, wie das der NRW-Innenminister gerade getan hat. Sie müssten die Bürger aufklären, dass zumindest in den kommenden Jahren Brownouts kommen werden.

Sie meinten im letzten TE-Interview, man solle Lebensmittel und Wasservorräte für zwei Wochen einlagern und wichtige Medikamente auf Vorrat kaufen. Wie sollen die Bürger heizen? Nehmen wir mal an, jemand wohnt in einem Hochhaus in einer Großstadt und kann seinen Vermieter nicht überzeugen, ein Notstromaggregat anzuschaffen.

Beim Heizen bleibt bloß der Schlafsack und warme Kleidung. Am besten sollten sich alle in einem Raum mit geschlossenen Jalousien aufhalten, damit die Körperwärme als Heizung genutzt wird. Auf keinen Fall sollte man ein Feuer anzünden – auch nicht mit Kerzen. Das kann übel enden. Wichtig ist mir auch: Man sollte nicht zur Gewalt greifen und eskalieren – wir schaffen das bloß gemeinsam.



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