Der Auftritt von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nach der Bund-Länder-Konferenz begann ungewohnt freundlich. An seiner Seite saß Parteikollegin Franziska Giffey, die neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin und Co-Vorsitzende der Konferenz, der Scholz zum Amtsantritt gratulierte. Erst danach kam der Regierungschef zur Sache, in einem betont ruhigen, fast gewollt nachdenklichen Tonfall. „Wir können und dürfen nicht die Augen verschließen vor dieser Welle, die sich vor uns aufzutürmen beginnt“, erklärte er. Man befinde sich in einer „seltsamen Zwischenzeit“. Die Inzidenzen gingen zurück, auch die Belegung der Intensivstationen verbessere sich etwas. Das zeige, dass die November-Maßnahmen – darunter insbesondere die 2G-Regel – die erwünschte Wirkung zeigten. Dass man die vierte Welle „in den Griff“ bekomme, verbuchte Scholz damit als Erfolg seiner Regierung. Doch die Pandemie lehre: „So schnell wie erhofft ist es nicht vorbei.“
Der Kanzler verwies auf den Vormarsch der Omikron-Variante im Vereinigten Königreich, den USA und Dänemark und deren Fähigkeit, den „Impfschutz stellenweise zu unterlaufen“. Deswegen liefen auch Geimpfte und Genese „hohe Gefahr“, sich mit dieser Variante anzustecken. Erst eine Auffrischungsimpfung biete „einigermaßen Schutz“ vor einer Infektion. Es sei nur eine Frage von wenigen Wochen, bis sich die Omikron-Variante in Deutschland durchsetzen würde. Man müsse sich daher „jetzt“ darauf vorbereiten und nehme die Empfehlungen des Expertengremiums zur Grundlage. Scholz betonte, dass die Maßnahmen erst nach Weihnachten gelten würden, da sich mittlerweile herausgestellt habe, dass Ostern und Weihnachten nicht die Pandemie-Treiber gewesen seien, für die man sie gehalten habe. „Im Gegenteil. Die Ferien haben die Infektionszahlen sogar oft verringert. Die Familien scheinen verantwortungsvoll und vorsichtig mit den Festtagen umzugehen“, erklärte der SPD-Politiker.
Die Bundesregierung gesteht ein, dass Ostern und Weihnachten keine Pandemietreiber waren
Das ist bemerkenswert: solche offenen Worte hat man von der Vorgängerin in der Corona-Krise bisher nie gehört. Offensichtlich ist der Mythos mangelnder Eigenverantwortung, die zur Eskalation der Pandemie geführt und staatliche Maßnahmen so zwingend macht, genau das: ein Mythos. Zwei Osterfeste und ein Weihnachtsfest später traut man sich zu sagen, dass man sich in der Bewertung geirrt hat. Wäre das in einer fünften Amtszeit Angela Merkels möglich gewesen? Der Kanzler beließ es daher bei der bloßen Bitte, Vorsicht walten und sich testen und impfen zu lassen.
Scholz stellte danach den eigentlichen Maßnahmenteil vor. An erster Stelle rangierte ein Appell an die Vertreter der kritischen Infrastruktur, ihre Pandemiepläne zu überarbeiten oder zu aktivieren, da der Krankenstand höher sei als in jeder anderen Phase der Pandemie. Zweitens: die harten Beschränkungen für Ungeimpfte blieben erhalten, im Ernstfall könne auch die 2G-Regel durch zusätzliche Testung der Geimpften und Genesenen zur 2G-plus-Regel verschärft werden; für Ungeimpfte gelten auch die strengen Regeln an Weihnachten. Sie seien „keine Schikane“, sondern dienten dem Schutz der Geimpften und „von uns allen“. Für Genesene und Geimpfte würden nach Weihnachten weitere Beschränkungen nötig. Private Zusammenkünfte seien nur noch bis zu 10 Personen – innen wie außen – möglich, ausgenommen Kinder bis 14 Jahren. Die Maßnahme entspricht der Beschlussvorlage, demnach es auch nicht zu verantworten sei „Silvesterfeiern mit einer großen Anzahl von Personen“ zu begehen. Ähnlich folgt die Ministerpräsidentenkonferenz der Vorlage, wenn sie Clubs und Diskotheken schließt. Es sei jetzt „keine Zeit für Partys“ sagte Scholz. Überregionale Großveranstaltungen – insbesondere Fußballspiele – dürften nicht mehr mit Publikum stattfinden. Scholz wiederholte das Verkaufsverbot von Feuerwerkskörpern für Silvester, sowie das „Ansammlungs- und Versammlungsverbot“ an Silvester und Neujahr. Das nächste Treffen sei für den 7. Januar angesetzt. Die neuen Corona-Regeln gelten damit mindestens bis zum Beginn der 2. Januarwoche. Der Kanzler bekannte zuletzt: „Wir sind alle mürbe.“
Die neue Bundesregierung düpiert das RKI
Zu Beginn der Gespräche hatte es nach Informationen der BILD ein Kompetenzgerangel gegeben. Scholz und Gesundheitsminister Karl Lauterbach kanzelten das Strategiepapier des Robert-Koch-Instituts (RKI) ab, das am Mittag für Aufregung gesorgt hatte. Der Bundeskanzler stellte klar: Grundlage für das Treffen seien die Einschätzungen des Expertenrats. Auch Lauterbach zeigte sich irritiert über den Vorstoß des Instituts. Die Veröffentlichung sei „nicht abgestimmt“ gewesen, über die Angelegenheit werde noch „in aller Klarheit“ zu sprechen sein, man brauche nicht noch eine weitere Expertenmeinung. Der Chef des Expertenrates, Charité-Direktor Heyo Kroemer, düpierte das RKI, indem er beim Bund-Länder-Gipfel erklärte, er habe das Papier aus Zeitgründen nicht gelesen. Der Umgang mit dem RKI-Papier könnte als Petitesse abgetan werden, zeigt jedoch, dass sich in der wissenschaftlichen Deutungshoheit über die Corona-Krise etwas getan hat. Das RKI gilt nicht mehr als unumstößliche Autorität. Instituts-Chef Lothar Wieler könnte sich mit dem zeitlich schlechten Vorstoß desavouiert haben; zumindest ähnelt die Stimmung der von Majestätsbeleidigung und Gnadenverlust. Nicht mehr das RKI, sondern der Expertenrat – dem Wieler angehört – ist nun die Kapazität, an der man sich orientiert, wenn wieder davon gesprochen wird, dass man „der Wissenschaft“ folge. Er ist ein Kind der neuen Bundesregierung und wird demnach gehätschelt. Das Signal ist klar: Wieler ist nur noch einer unter vielen und das Querschusspapier hat keinerlei Bedeutung im Schatten der Vorlage des Expertenrates vom Sonntag. Die von Scholz vorgestellten Maßnahmen entsprechen damit durchgehend der Beschlussvorlage.
Das RKI hatte am Dienstagmittag einen Tweet abgesendet, der die Medienlandschaft den ganzen Tag über beschäftigte. Inhalt: ein Link zu einem neuen Strategiepapier („ControlCOVID – Strategie-Ergänzung zur Bewältigung der beginnenden pandemischen Welle durch die SARS-CoV-2-Variante Omikron“). Die Maßnahmenforderungen gingen deutlich weiter als die Beschlussvorlage der Bund-Länder-Konferenz. Restaurantbesuche sollten verboten werden, mit Ausnahme der Abholung – romantische Aussichten an Weihnachten und Neujahr! Neben dem Gastro-Lockdown sollten Weihnachtsferien für Kitas und Schulen verlängert, Gesang in Innenräumen (außer den eigenen vier Wänden) verboten, Sport nur noch im Außenbereich erlaubt sein. Haarsträubend: Maskenpflicht in Außenbereichen bei weniger als 1,5 Meter Abstand zwischen Personen, obwohl zur Genüge über das arkane Thema „Covid an der frischen Luft“ debattiert wurde. Das RKI wollte außerdem die eingeschränkte Bewegungsfreiheit bei zu hoher Inzidenzzahl aus dem Winter 2020/2021 zurückholen. Zitat: „Die Option für eine weitere Reduktion von Kontakten, z. B. durch Einschränkung von Mobilität in Regionen mit besonders hoher Virusaktivität, sollte geschaffen werden“. Auf nicht notwendige Reisen sollte überhaupt verzichtet werden. Das alles firmierte unter dem Schlüsselstichwort „maximale Kontaktbeschränkungen“ – und das „ab sofort“.
Dagegen erschien die Empfehlung der STIKO, die neudeutsch als „Booster“ deklarierte Auffrischungsimpfung bereits 3 Monate nach der zweiten Impfdosis durchzuführen, fast als Randnotiz. Sie dürfte nicht aus Zufall in das Zeitfenster der Brüsseler Entscheidung fallen, das als Privilegienschein firmierende Corona-Impfzertifikat von 12 auf 9 Monate Geltungsdauer zu verkürzen. Diese Regelung tritt am 1. Februar in Kraft. Gestern machte die Nachricht vom Eingeständnis des BioNTech-Chefs Ugur Sahin die Runde, dass es mit der mRNA-Impfung doch nicht so rosig aussieht, wie man es früher angenommen habe. „Wir müssen uns bewusst sein, dass selbst Dreifach-Impfungen die Krankheit wahrscheinlich übertragen … Es ist offensichtlich, dass wir weit von einer 95-prozentigen Wirksamkeit entfernt sind, die wir gegen das ursprüngliche Virus erzielt haben“, sagte er gegenüber der französischen Zeitung Le Monde. Trotzdem sagte Sahin, dass frühe Daten aus Großbritannien und Südafrika „beruhigende Informationen“ lieferten. „Es wird im Laufe der Zeit einen Wirkungsverlust gegen Omikron geben, das ist sehr wahrscheinlich, aber es muss noch gemessen werden, wie schnell. Ich werde Vorhersagen nicht auf vorläufige Labordaten stützen, sondern auf Daten aus dem wirklichen Leben, was viel angemessener ist.“
Politikern von Union und Grünen geht das Paket nicht weit genug
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (GRÜNE) pflichtete der Forderung nach der Widerherstellung der epidemischen Notlage bei: man brauche alle Instrumente zurück, ein Beschluss liege vor, Kanzler Scholz müsse jetzt Führung zeigen. In deutlicheren Worten: der „Instrumentenkasten“ ist den Ländern nicht groß genug, den die Mali-Koalition zugesagt hatte, Daumenschrauben und Spanischer Stiefel wirken nicht, man vermisst den Gespickten Hasen und die Papageienschaukel. In Hamburg hatte man bereits vor der Konferenz am Dienstagmittag neue Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung beschlossen: Sperrstunden für die Gastronomie, nur noch maximal 10 Personen bei privaten Treffen, verkündete Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). Ein ganz normales Weihnachten eben.
Trotz allem: die Maßnahmen, die Scholz heute verkündet hat, nehmen sich zurückhaltender aus als erwartet, insbesondere in Hinblick auf das RKI-Papier und die Vorschläge aus Reihen der Union. Unmut regte sich bereits am Ende der Runde. Sachsen und Baden-Württemberg beklagten sich darüber, dass die Beschlüsse nicht weit genug gingen. „Sie gewährleisten keine ausreichende Handlungsfähigkeit, um schnell auf eine sich zuspitzende Lage, wie sie der wissenschaftliche Expertenrat in seiner Stellungnahme vom 19. Dezember 2021 prognostiziert, reagieren zu können“, heißt es im Protokoll. Und Wüst betonte nach dem Treffen, dass die Impfpflicht vorangetrieben werden müsse. „Dieses Thema fordert Tempo und Klarheit“, sagte der Ministerpräsident von NRW. Die Länder haben bereits eine Bitte an die Bundesregierung gerichtet, einen Zeitplan vorzulegen. Ein Vorhaben, das der Kanzler schon in der Konferenz mit Verweis auf den Bundestag gezügelt hatte.