In Nazareth hat Maria empfangen, in Bethlehem ist der HERR geboren, in Jerusalem wurde er gekreuzigt. Die christliche Welt bereitet sich auf Weihnachten vor, das Fest der Liebe und des Friedens. Aber dort, wo alles anfing, in Israel, wird die arabische Bevölkerung – immerhin über zwei Millionen Bürger – von einer Gewaltwelle heimgesucht. 96 Opfer 2020, im laufenden Jahr sind es bereits 20 Prozent mehr. Und dieser Konflikt hat nichts mit der Auseinandersetzung „Israel – Palästinenser“ oder einer fehlenden Zwei-Staaten-Lösung zu tun. Ministerpräsident Naftali Bennett sprach bereits im Sommer von einem „nationalen Unglück“, das die Gefahr in sich birgt, „dass wir unser Land verlieren“.
Als hätte die Region nicht genügend Probleme: Es vergeht fast kein Tag, an dem in den israelischen Abendnachrichten nicht Smartphone-Aufnahmen von Schießereien, brennenden Autos und wilden Schlägereien zwischen rivalisierenden arabischen Clans gesendet werden. Die Orte des brutalen Geschehens heißen Umm-Al-Fahm, Fureidis und auch Nazareth, der größten rein arabisch besiedelten Stadt Israels mit 90.000 Einwohnern. Sie liegen im israelischen Kernland, haben nichts zu tun mit dem Streit um Judäa und Samaria, besser bekannt als Westbank.
Ali Salam, seit 1993 der „Macher“ in Nazareth, zuerst Stellvertreter, seit 2004 immer wiedergewählter Bürgermeister der Stadt, formuliert es so: Die Gewalt hat das nationale Problem der Palästinenser als Sorge Nummer 1 abgelöst. Ali ist kein gewöhnlicher Bürgermeister. Er fühlt sich als Vater seiner Mitbürger. Und zwar aller. Wer mit ihm ins Gespräch kommt, wird von einem wuchtigen, gefühlt 120-Kilo-Mann sofort umarmt. Nach wenigen Minuten hat man seine Handy-Nummer, direkt. Vorzimmer-Dame kennt Ali Salam nicht, auch keinen Personenschutz oder Chauffeur. Er lenkt seinen weißen Mercedes S-Klasse 550 selbst.
Bibi, gemeint ist der frühere Ministerpräsident Netanyahu, ist sein Freund. Er hat ihm schon mal ein Ministeramt in Jerusalem angeboten. Aber ein Ali Salam verlässt seine Stadt nicht. „Und gestern hat mich Staatspräsident Itzhak Herzog und seine Frau besucht“, sprudelt es stolz aus ihm heraus. Alles in Butter in Nazareth?
Die christlichen Pilger blieben aus
Nichts ist in Ordnung. Das Covid-19-Virus hat die ganze Welt heimgesucht, aber für Nazareth bedeutet es eine Katastrophe. Die christlichen Pilger bleiben aus. Mitten in der Stadt steht unübersehbar die „Basilika der Ankündigung“, die ein italienischer Architekt erst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zur Erinnerung an die göttliche Mutter Maria rundum renoviert und ausgebaut hat. Die Basilika, der Ort an dem der römisch-katholischen Überlieferung zufolge Erzengel Gabriel der Jungfrau Maria die Ankunft des HERRN ankündigte, verkörpert neben der Geburtskirche in Bethlehem und der Grabeskirche in Jerusalem das wichtigste Zeugnis des Christentums.
Hunderttausende knieten vor der Corona-Pandemie dort jeden Monat andächtig nieder und brachten Dollars und Euros mit. Der Geldstrom ist versiegt, und damit ist der Wirtschafts-Kreislauf unterbrochen. Die Mittelständler, die die Hotels und Restaurants betreiben, können ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen. Das Gleiche gilt für die Souvenir-Händler und Taxifahrer. In keiner israelischen Stadt gibt es optisch so viele dicke Mercedes, BMWs und Audi-SUVs wie in Nazareth. Alles natürlich auf Pump, erzählt ein kundiger Einheimischer. Finanziert wird das alles selten über geordnete Banktresen. Die Geldverleiher sind groß im Geschäft. Und sie kennen keine Nachsicht. Wer die monatlichen Raten von nicht selten 25 Prozent Zinsen nicht bar auf den Tisch blättern kann, bekommt die harte Faust der Chamullahs zu spüren, der arabische Begriff für Mafia.
Radio NAS soll aufklären und helfen
Die Regierung hat die Polizei in den arabischen Zentren verstärkt und will Milliarden Schekel in Bildung und Ausbildung investieren. Aber die Gewaltspirale dreht sich schneller. Nazareth hatte eine wirksamere Idee: Radio NAS. Ein Staatsbeamter unterstützt durch junge, gut ausgebildete, erfahrene, arabische Journalisten wollen ihre Zuhörer für Gewalt sensibilisieren und damit die Blutspur trockenlegen. Ziad Omari, der 30 Berufsjahre im Dienst des Staates hinter sich hat, bekam die erste private, arabische Radio-Lizenz seit der Gründung Israels und sendet seit knapp zwei Jahren vom 6. Stock des örtlichen Ramada-Hotels rund um die Uhr.
Im letzten Jahr, so haben es die unabhängigen Messgeräte in Jerusalem errechnet, schalteten 34 Prozent der arabischen Bewohner im Norden Israels Radio NAS ein. Feras Kathib, der 10 Jahre für BBC gearbeitet hat und Shireen Younis, eine Ex-Sky–News Mitarbeiterin, scheuen keines der brennenden Themen wie „Wir leben in Unsicherheit“. Ihr Leitspruch: „ohne freien Journalismus gibt es keine gesunde Gesellschaft“. Fast täglich rufen Geschäftsleute an, die bedroht werden, und Frauen, die häusliche Gewalt erleiden. Am Mikrofon von Radio NAS können sie auch anonym ihren Schmerz schildern und die Bevölkerung miteinbeziehen. Radio NAS gibt ihren Zuhörern eine „öffentliche Plattform, die den Menschen Mut macht, Gewalt zu bekämpfen“.
Inshallah – Gott wird uns helfen
Die Radio-Journalisten und ihr Lizenzgeber, gefördert durch den „Vater der Stadt“ Ali Salam, wollen Nazareth wieder zu dem machen, was es einmal war: eine Stadt des Friedens. Im 19. Jahrhundert trug Nazareth den Beinamen „die weiße Stadt“, weil es das Baumwoll-Anbau-Zentrum der nördlichen Region Gallileas war. Damals exportierten die Nazarener nach England, Frankreich und Italien. Der Reichtum brachte den venezianischen Baustil nach Nazareth, der bis heute in Boutique-Hotels in der Altstadt zu besichtigen ist. „Diese Zeiten sind vorbei, aber der Pilger-Tourismus wird bald wieder anlaufen und der gesunde Wirtschafts-Kreislauf wird wieder in Bewegung kommen“, hoffen Politiker und Journalisten.
„Inshallah“ – sagen Muslime und Christen in Nazareth einmütig, „Gott wird uns helfen“.