Vor genau fünf Jahren wurde der schlimmste Albtraum aller Berliner wahr: ein Terroranschlag mitten im Herzen der Stadt. An diesem verhängnisvollen Abend des 19. Dezember 2016 überschlugen sich die Nachrichten. „Terroranschlag am Breitscheidplatz. Lkw rast auf Weihnachtsmarkt. Tote, Verletzte. Attentäter auf der Flucht“. In den Stunden nach dem Anschlag hielt die ganze Stadt den Atem an. Die Behörden wiesen die Berliner an, ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Es brach blanke Panik aus – jeder fürchtete, seine Liebsten könnten unter den Opfern sein. Beim bis heute schlimmsten islamistischen Anschlag in der deutschen Geschichte starben zwölf Menschen durch die Tat eines Mannes, der längst abgeschoben sein sollte. Etwa siebzig weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Der 19. Dezember ist ein Tag, der sich in die Herzen gebrannt hat. Ein Tag, der Angst und Ohnmacht hinterließ. Mit der Vorweihnachtsstimmung war es schlagartig vorbei.
All das erfuhr man aber erst Tage nach dem Attentat. Nachdem sich der Sattelschlepper um 19:36 Uhr in Bewegung gesetzt hatte und um etwa 20 Uhr mitten in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz vor der Gedächtniskirche raste, dachte man erst, dass es sich um einen tragischen Unfall handeln könnte. Kurz danach wurde klar, dass es ein Terroranschlag war. Um kurz vor 21:00 Uhr wurde ein erster Verdächtiger festgenommen, der von einem Zeugen vom Breitscheidplatz verfolgt worden war – aber man hatte den falschen Mann und wusste weder, ob es einen islamistischen Hintergrund, noch ob es eine Tätergruppe oder Fädenzieher im Hintergrund gab. Am Dienstagabend verkündete die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) dann über ihr Internetportal „Amak“, dass ein IS-Kämpfer für den Anschlag verantwortlich gewesen sei.
Am Mittwoch, dem 21. Dezember, wurde der 24-jährige Tunesier Anis Amri öffentlich zur Fahndung ausgeschrieben – er war kein Unbekannter. Die Behörden ermittelten gegen ihn bereits wegen der Vorbereitung „einer schweren staatsgefährdenden Straftat“, er war als „Gefährder“ bekannt. Amri wurde im Juni 2016 als Asylbewerber abgelehnt, konnte aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hatte. Amri war im Jahre 2011 außerdem schon in Italien wegen verschiedener Vergehen, unter anderem Brandstiftung, verhaftet und zu vier Jahren Gefängnis verurteilt worden. 2015 scheiterte eine Abschiebung an den tunesischen Behörden. Trotz allem rückte er erst ins Täterprofil, als man bei der Untersuchung der Fahrerkabine des Lkws ein schwarzes Lederportemonnaie entdeckte, in dem sich die Duldung eines „Ahmed Almasri“ befand. Schnell wurde klar, dass der Mann in Wirklichkeit Amri hieß und unter verschiedenen Namen in verschiedenen Bundesländern registriert war. Darüber, warum man die Geldbörse erst einen Tag nach dem Anschlag auffand und dann noch einen knappen weiteren brauchte, um die bundes- und europaweite Fahndung auszusprechen, wird bis heute spekuliert.
Am 23. Dezember, vier Tage nach dem Anschlag, wurde Anis Amri dann schließlich bei einer Routine-Straßenkontrolle in Mailand erschossen. Die zwei jungen Polizisten Cristian M. (36 Jahre) und Luca S. (29 Jahre), sahen, als sie um kurz nach drei Uhr morgens am geschlossenen Bahnhof von Sesto San Giovanni vorbeifuhren, einen jungen Mann vorbeilaufen. Sie hatten keinen Anhaltspunkt, dass der Berlin-Attentäter sich in Italien aufhielt, der Mann schien ihnen einfach verdächtig. Auf die Bitte seinen Rucksack zu öffnen, soll Amri dann „ohne zu zögern“ eine Pistole gezogen und das Feuer eröffnet haben. Cristian wurde beim Schusswechsel verletzt, Amri starb. Der Spuk war vorbei. Ich kann mich noch erinnern, wie erleichtert ich über diese Nachricht war – ich hatte die letzten Tage in der Angst verbracht, dass es noch weitere Anschläge geben würde. So wie ein Jahr zuvor in Paris. In den Stunden nach dem Anschlag war diese Sorge für diejenigen, die ihre Liebsten unter den Opfern wähnten, aber wahrscheinlich beinah nebensächlich. Jeder rief seine Mutter, seinen Vater, die Schwester und die Tante an, sodass irgendwann das Telefonnetz überlastete. Viele Leute griffen auch und vielleicht deshalb zu Facebook. Mit dem „Safety Check“ konnte man seinen Freunden und Familienangehörigen mitteilen, dass man in Sicherheit war. „Ich bin sicher“, war an diesem Abend wohl die verbreitetste Nachricht in ganz Berlin.
Dafür erinnere ich mich aber ganz genau an den Tag nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt. Ich ging ins Büro und traf als erstes unseren Paketboten, einen älteren Herren. Er war ganz aufgeregt, bekam von meinem Kollegen einen Kaffee und eine Zigarette und erzählte dann, dass er mit seiner Frau gestern eigentlich auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gehen wollte. Zum Glück hielt ihn irgendetwas davon ab. Und genau so ging das gleich mehreren Leuten, die ich kannte. Der Weihnachtsmarkt war unter Berlinern und Touristen sehr beliebt. Meine Mutter und meine Schwester wollten noch am Sonntag vor dem Anschlag ebenfalls auf den Markt. Außerdem ist das Areal eine beliebte Einkaufsgegend mit vielen Bürogebäuden. Eine Freundin erzählte mir später, dass sie während des Anschlags gerade wenige hundert Meter entfernt im „KaDeWe“ einkaufen war. Sie rief völlig ahnungslos ihren Freund an, der gegenüber des Weihnachtsmarktes arbeitete. Er sagte ihr nur: „Hier stimmt was nicht, fahr nachhause. Warte nicht auf mich“. Kurz danach rannte er mit den strömenden Menschenmassen in das Bikini Berlin, dachte es hätte einen schlimmen Unfall gegeben und merkte intuitiv doch, dass etwas nicht stimmt. Zum Glück ist ihm, meiner Freundin und auch sonst niemandem, den ich persönlich kenne, etwas passiert.
Vielen ging das leider anders. Ich war im selben Alter wie Valeriya Bagratuni als sie ihre beiden Eltern bei dem Anschlag verlor. Sie war zu diesem Zeitpunkt gerade mal 22 Jahre alt und plötzlich allein – eine so schreckliche Situation, dass ich sie mir nicht mal vorstellen möchte. Valeriya stand vor dem nichts und war mittellos, denn sie kam laut ihrem Schwiegervater nicht an die gesperrten Bankkonten ihrer Eltern. Beim Publik-Forum berichtete er unter anderem, dass Valeriya erst vier Tage nach dem Anschlag offiziell vom Tod ihrer Eltern in Kenntnis gesetzt wurde – als die Charité schon eine Rechnung für den Totenschein losgeschickt hatte. Ihre Studienkosten wurden von privaten Spendern weiter getragen – sie studierte Zahnmedizin, genau wie meine Schwester. Aber was kam von der Regierung? Zunächst wohl gar nichts, später eine „lächerlich geringe Rente“ und wenig bis keine Empathie für das junge Mädchen, das wahrscheinlich völlig am Boden zerstört war. Eine äußerst bittere Erfahrung, die anscheinend viele Opfer und Angehörige machen mussten.
Ich kann die Wut und Verzweiflung der Opfer und Angehörigen gut verstehen, auch wenn ich mir wohl nie wirklich vorstellen kann, welchen Schmerz sie erleiden mussten und immer noch müssen. Schon mir tut es jedes einzelne Mal, wenn ich am Breitscheidplatz vorbeikomme, sprichwörtlich in der Seele weh. Dort wo im Dezember 2016 zwölf Menschen ihr Leben lassen mussten, stehen seit einigen Jahren Poller zur Terrorismusabwehr – angesichts der jahrelangen Untätigkeit unserer Regierung und der weiterhin unbegrenzten Einwanderungspolitik fühlt sich ihr Anblick jedes Mal wie ein Schlag ins Gesicht an. Wenn wirklich jemand einen neuen Anschlag verüben möchte, werden ihn diese Dinger garantiert nicht aufhalten. Und was ist das auch für ein Zeichen? Wir kapitulieren vor dem Terrorismus und basteln uns in der ganze Stadt Barrikaden? Wenn unsere Regierung wirklich etwas gegen den Terrorismus tun wollte, würde sie auf einen guten Geheimdienst, eine gute Polizei, klare Maßnahmen, internationale Zusammenarbeit bei der Terrorismusabwehr und auf eine begrenzte Einwanderungspolitik sowie konsequente Abschiebungen setzen – dann bräuchten wir keine Poller. Und keine Angst in U- und S-Bahnen oder an belebten Plätzen, wie ich sie sehr lange nach dem Anschlag hatte.
Hätte unsere Regierung konsequent und verlässlich gehandelt, könnten dreizehn unschuldige Menschen noch am Leben sein. Dreizehn, denn am 5. Oktober 2021 starb der 49-jährige Ersthelfer Sascha Hüsges an den Folgen seiner schweren Verletzungen, die er erlitt, als er anderen zu Hilfe eilte. Er wurde von einem herabstürzendem Balken am Kopf getroffen und musste seither gepflegt werden. Die Gruppe aus Hinterbliebenen und Opfern wünscht sich, dass sein Name zum fünften Jahrestag des Anschlags auf den Stufen der Gedenkstelle an der Gedächtniskirche aufgeführt wird – direkt neben dem mahnenden 15 Meter langen goldenen Riss und den Namen der anderen Opfer:
Denen des 37-jährigen Lkw-Fahrers Lukasz Urban, der seiner Frau endlich ein Weihnachtsgeschenk kaufen wollte. Dem des 32-jährigen Industriemechanikers Sebastian Berlin, der eine Prüfung feiern wollte. Dem Namen der 34-jährigen Nada Cizmar, die ihren 5-jährigen Sohn zurückließ, der noch zwei Jahre später für sie bastelte. Dem der 66-jährigen Israel-Touristin Dalia Elyakim, deren Ehemann schwer verletzt überlebte. Dem des 40-jährigen Juristen Christoph Herrlich, der gerade noch eine Freundin beiseitestoßen und so ihr Leben retten konnte. Dem Namen des 65-jährigen Klaus Jacob, der nur zum Weihnachtsmarkt gegangen war, weil er und seine Partnerin keine Karten fürs Theater bekamen. Dem der 65-jährigen Angelika Klösters aus Neuss-Lanzarath, die von ihrem Sohn eine Berlinreise geschenkt bekommen hatte. Dem der 53-jährigen Bankangestellten Dorit Krebs. Dem Namen der 31-jährigen italienischen Studentin Fabrizia Di Lorenzo. Dem des 73-jährigen Peter Völker, der mit seinem amerikanischen Partner an der Gedächtniskirche verabredet war und dem Namen des Ehepaars Anna und Georgiy Bagratuni, die den Abschluss ihrer Tochter nicht mehr erleben durften.
Noch heute leiden die Angehörigen darunter, dass niemand Verantwortung für den Tod dieser Menschen übernehmen will. Dabei hätte die Tat verhindert werden können.
Dieser Beitrag erscheint auch im Jugendmagazin Apollo News.