Tichys Einblick

Die Ukraine – Moskaus Kuba?

Um zu verstehen, was die Kuba-Krise mit der Situation der Bedrohung der Ukraine durch die Russische Föderation zu tun hat, ist ein Blick auf die damalige Vorgeschichte geboten.

IMAGO / ITAR-TASS

Historische Vergleiche hinken. Das gilt auch für diesen. Und doch werden einige Gemeinsamkeiten deutlich, während gleichzeitig die Unterschiede offensichtlich sind.
Die älteren Semester mögen sich noch daran erinnern. 1962 stand die Welt nach offizieller Betrachtung kurz vor einem alles vernichtenden Atomkrieg. Erst in letzter Minute, so wird es uns erzählt, konnte die Einsicht und die Vernunft auf beiden Seiten des Konflikts die Weltkatastrophe verhindern.

Es mag so sein. Möglich, dass der große Schlagabtausch zwischen den USA und der russischen Sowjetunion 1962 nur in allerletzter Sekunde verhindert werden konnte. Möglich auch, dass der Rückblick auf jene Tage im Oktober 1962 dazu neigt, das Vorgehen der Akteure zu heroisieren und zu dramatisieren. Tatsache bleibt: Im Spätsommer 1962 strebte der Kalte Krieg zwischen den beiden damaligen Supermächten USA und Russland auf einen gefährlichen Höhepunkt zu.

Kuba und die Ukraine

Um zu verstehen, was die Kuba-Krise mit der Situation der Bedrohung der Ukraine durch die Russische Föderation zu tun hat, ist ein Blick auf die damalige Vorgeschichte geboten.

In den Jahren nach der Überwindung des Deutschen Reichs und Japans durch die Alliierten war der zwangsläufige Widerspruch zwischen dem liberalen Wirtschaftsmodell der USA und der staatsmonopolistischen Sowjetwirtschaft bei gleichzeitigen Imperialismusvorstellungen unvermeidbar geworden. Ende der Fünfzigerjahre – der Konflikt der Systeme hatte von Berlin bis Korea teilweise blutige Formen angenommen – schien die westliche Führungsmacht USA ins Hintertreffen zu geraten. Eine piepsende Weltraumkugel namens Sputnik hatte den Herren in Washington ebenso einen Schock versetzt wie der Fall der Mafia-Kommune auf Kuba, welches traditionell als US-amerikanischer Vorgarten betrachtet worden war.
Dem Scheitern der Schweinebucht-Invasion vom 17. April 1961, bei der Exilkubaner mit US-Unterstützung den Versuch unternommen hatten, die Castro-Diktatur zu ersetzen, folgte an Juli 1962 der heimliche Versuch Russlands, die von Castro übernommene Karibikinsel zu einem atomar bewaffneten, unsinkbaren Flugzeugträger vor den Toren der USA auszubauen. Die USA unter der Administration John F. Kennedys sah darin zurecht eine eklatante Bedrohung des strategischen Gleichgewichts, da die damals verfügbaren SS5/R14-Raketen von Kuba aus mit einer Vorwarnzeit von nur zehn Minuten jeden Zielort in den USA erreichen konnten. Um die Stationierung der Mittelstreckenraketen auf Kuba zu verhindern, verhängte die US-Regierung eine Seeblockade um die Karibikinsel und bereitete einen atomaren Erstschlag gegen die Sowjetunion vor. Verhindert wurde der bewaffnete Konflikt durch ein Abkommen, bei dem Russland seine Raketensysteme von Kuba gegen die Zusicherung der USA abzog, nicht militärisch gegen das Castro-Regime vorzugehen. Weiterhin zogen die USA ihre gegen die Sowjetunion gerichteten Jupiter-Raketen aus der Türkei ab. Die Erkenntnis auf beiden Seiten, einen bewaffneten Konflikt nicht gewinnen zu können, hatte letztlich dafür Sorge getragen, den befürchteten, atomaren Selbstvernichtungskrieg zu verhindern.

Moskau 2021 und Washington 1962

Was nun aber hat 1962 mit 2021 zu tun? Versetzen wir uns in die Situation der Moskauer Führung, so werden erstaunliche Parallelen erkennbar. Die Implosion der Sowjetunion 1989/90 ist vergleichbar mit dem Sputnik-Schock und der kommunistischen Machtübernahme in zahlreichen postkolonialen Ländern nach 1949. Ehemals russische Kolonialgebiete und Protektorate wie das Baltikum sowie die mittelosteuropäischen Länder fielen faktisch an den ewigen Gegner USA. Die NATO-Osterweiterung ähnelt aus russischer Sicht der Bewaffnung des kommunistischen Kuba: Stellten zwischen 1945 und 1989 die europäischen Sowjetvasallen zwischen Elbe und Asowschen Meer eine Pufferzone dar, die die russischen Kernlande vor einer schnellen Invasion schützte, so rückte die NATO durch den nachvollziehbaren Wunsch der ehemaligen Kolonien, nicht erneut in das russische Imperialreich zwangseingegliedert zu werden, in Mittelosteuropa und im Kaukasus deutlich näher an die als bedroht gefühlten russischen Zentren heran.
Als 2004 nach der Orangenen Revolution nun auch die Ukraine ihre Westorientierung durchzusetzen suchte, kam dieses aus Moskauer Sicht der Machtübernahme Kubas durch Castro gleich. Russlands Parteigänger Wiktor Janukowytsch konnte zwar 2010 erneut die Macht übernehmen, doch der Euromaidan schien einer ukrainischen Russland-Orientierung 2013/14 abschließend ein Ende zu bereiten. Seitdem bemüht sich die prowestliche Führung der Ukraine darum, sowohl der NATO als auch der EU beitreten zu können. Hintergrund auch hier ist vor allem das Bedürfnis, im Verteidigungskollektiv vor den unverhohlen vorgetragenen Imperialismusinteressen einer Großrussland-Ideologie geschützt zu sein.

Putin und die postkoloniale Angst

Ähnlich den USA in den Sechzigern fühlt sich Vladimir Putins Russland durch den „Abfall“ der früheren Sowjetrepubliken nicht nur sicherheitspolitisch bedroht, sondern sieht in seinem postkolonialen Phantomschmerz auch den Zerfall des russisch-orthodox-kommunistischen Imperiums als Menetekel des Niedergangs. Tatsächlich werden manche Parallelen zum Weströmischen wie zum Oströmischen Reich deutlich, in dessen Nachfolge sich die Herren im Kreml über Jahrhunderte gesehen haben. Der Abfall der Vasallenstaaten, die tatsächliche oder gefühlte Besetzung ehemaliger Reichsterritorien durch geopolitische Gegner – für all das gibt es historische Vorbilder, die niemals in einem Wiedererstarken zu alter imperialer Blüte führten.

So kämpft Putin, der zur Hochzeit des sowjetischen Weltimperiums politisch sozialisiert und durch den KGB geprägt worden ist, einen Krieg an vielen Fronten: Gegen den Liberalismus nach innen, den er als Bedrohung der russischen Identität betrachtet und sich dabei durch die antinationalen Bestrebungen in den westeuropäisch geprägten Ländern bestätigt sieht; gegen die Ausbreitung des Islam an Russlands Südfront; gegen die Erweiterung des NATO-Einflusses vor allem im Westen und Südwesten Russlands.

Der Fall des Vasallen Janukowytsch war Katastrophe und Menetekel zugleich. In Putins Welt der geheimen Dienste war der Euromaidan nur als Geheimoperation des US-amerikanischen CIA vorstellbar. Die völkerrechtswidrige Besetzung und Annexion der Krim sowie die faktische Besetzung der Donezk-Region sind aus russischer Sicht ein Präventivschlag gegen den Vormarsch des weltpolitischen Gegners Nummer Eins. Dabei geht es auch um Russlands wichtigste Geldquelle: Vor den Küsten der Krim liegt das Gasfeld Skifska, dessen Vorräte auf bis zu acht Billionen Kubikmeter geschätzt werden. 2012 hatte die amerikanische ExxonMobil den russischen Konkurrenten Lukoil im Bieterverfahren um die Ausbeutung aus dem Feld geschlagen – für Putins künftigen Staatshaushalt ein erheblicher Rückschlag.
Hätte es unter dem damaligen US-Präsidenten Barak Obama keine klaren Ansagen gegeben, die mit der Verlegung des Flugzeugträgergeschwaders der USS George H. W. Bush in die Ägäis die Möglichkeit eines unmittelbaren Schlagabtausches zwischen Russland und den USA in Sicht holten, dürften die als ukrainische Separatisten getarnten, russisch unterstützten Terroristen ihren Vormarsch über die Schwarzmeerstadt Mariupol bis hin nach Odessa fortgesetzt haben.

Eine Zeitlang wurde nun der Krieg um die Ostukraine zu einem der zahlreichen „frozen conflicts“ der russischen Führung – die Chance, einen Schwelkrieg jederzeit zu einem offenen Kampf werden zu lassen. Die Krim und Donezk sind insofern die erfolgreiche Schweinbucht und die Enklave Guantanamo – nur mit dem Unterschied, dass sie unmittelbar an russisches Territorium angrenzen.

Putin fühlt sich stark

Mittlerweile fühlt sich Russlands Präsident offenbar stark genug, in diesem Konflikt in die nächste Runde zu gehen. Bei einem sogenannten Herbstmanöver haben die Russen bis zu 100.000 Soldaten mit Topp-Ausrüstung an die russische Grenze zur Ukraine verlegt. Gleichzeitig wurde mit Minsk und dem dortigen Machthaber Lukaschenko ein zeitweilig etwas abtrünniger Vasall wieder fest an Moskaus Kette gelegt. Die auch über Russland organisierte Invasion der EU-Ostgrenze durch importierte Migranten bot dem Kreml eine ideale Ablenkung, die angesichts der Menschenrechtsphantasien westeuropäischer Linker noch dazu den Spaltpilz tiefer in die EU treiben konnte.

Nun steht sie zum Einsatz bereit, eine russische Armee, der die Ukraine, allein auf sich gestellt, wenig entgegen zu setzen hätte. Offiziell beteuert Moskau, keinerlei Interventionsabsichten zu haben. Doch Moskau beteuerte auch, nichts mit der Übernahme der Krim durch Uniformierte; nichts mit den sogenannten Separatisten in Donezk-Luhansk und nichts mit dem Abschuss des niederländischen Zivilflugzeugs zu tun gehabt zu haben. Ukrainische Geheimdienste allerdings sehen nicht nur das militärische Potential, sie gehen auch davon aus, dass Russland Planungen vorbereitet hatte, die auf einen angeblich aus der ukrainischen Mitte heraus gestarteten Umsturz gegen den prowestlichen Präsidenten zielten und der den offiziellen Anlass zur Intervention mit russischen Truppen zwecks – so offiziell – der Verhinderung eines Bürgerkrieges hätte geben sollen. Das Absperren des Asowschen Meeres und damit der Seeverbindung nach Mariupol durch Russland lässt darüber hinaus ebenfalls wenig Friedenswillen erkennen. Die Ukraine sieht sich unmittelbar in ihrer Existenz bedroht und hofft auf den uneingeschränkten Beistand durch NATO und EU, den es jedoch kaum geben wird.

Das westliche Dilemma

Putin weiß das westliche Dilemma einzuschätzen. Die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO – der Automatismus der kollektiven Verteidigung greift im Falle eines russischen Angriffs nicht. Ein Alleingang der USA, um, die Demokratie in Kiew vor der Übernahme durch großrussisch-imperiale Gelüste zu bewahren, ist ebenfalls wenig wahrscheinlich. Ein offener Schlagabtausch zwischen Russland und den USA ist nicht auf Ukraine und Schwarzes Meer zu beschränken. Die Front liefe schnell von Finnland über Polen und das Baltikum bis in den Bosporus und den Kaukasus.
Das wiederum ist die offene Flanke Putins. Auch er kann einen offenen Krieg um die Ukraine nicht riskieren, solange er sich nicht sicher ist, dass dadurch kein Großkonflikt entsteht. Einen offenen Krieg gegen die NATO kann Russland nicht gewinnen – nur Europa, Teile der USA und sich selbst zerstören.

Die Militärmacht an der Ukraine-Grenze kann insofern mehreren Zielen dienen:

– Putin geht davon aus, dass eine Teilaggression gegen die Ukraine zwar erhebliche Sanktionen des Westens veranlassen würde, im Ergebnis jedoch ebenso ohne ernsthafte Konsequenzen bliebe wie die Annexion der Krim und der Region Donezk-Luhansk. In diesem Falle könnte er versucht sein, das bereits 2014 angedachte Ziel der Übernahme der ukrainischen Schwarzmeerküste bis zu Metropole Odessa zu verwirklichen. Gleichzeitig müssten in einem solchen Falle russische Einheiten tief in die Ukraine eindringen, um eine Pufferzone gegen NATO und eine pro-westliche Restukraine zu schaffen.

– Putin erwartet selbst bei einer Komplettbesetzung der Ukraine keinen ernsthaften Widerstand der NATO. Die bisherigen Einlassungen der westlichen Verbündeten, die lediglich „ernsthafte Sanktionen“ androhen, könnten ihn in dieser Meinung bestärken. Vor allem die EU ist jetzt im Winter auf russische Erdgaslieferungen angewiesen, sollen nicht zwischen Nordkap und Sizilien die Lichter ausgehen. Wer also sitzt im Ernstfall am längeren Hebel?

– Möglich aber auch, dass Putin sich als der Kennedy der frühen Sechziger denkt. Dafür spricht, dass an der Nordflanke zur NATO angesichts der Truppenkonzentration zur Ukraine keine erhöhte Truppenpräsens beobachtet wird. Wäre die NATO tatsächlich zum konventionellen Widerstand bereit, so könnte ein Überfall auf die Ukraine mit einem Sichelschnitt vorbei an Sankt Petersburg tief ins russische Kernland geführt werden. Das allerdings wäre dann der offene Krieg, dessen weitere Entwicklung nicht absehbar ist und der schnell in den atomaren Schlagabtausch führen kann. Wäre Putin bereit zu einem Vielfrontenkrieg entlang seiner Westgrenze? Und: Riskiert der Russe damit nicht vor allem seine eigene Position, weil im Ergebnis ein solcher Krieg keine Gewinner kennen wird?
Denkt sich Putin in das Kuba-Szenario, so könnte sein taktisches Ziel ein vergleichbares Abkommen wie 1962 sein: Verzicht der USA und NATO, die Ukraine in die eigenen Verteidigungsstrukturen einzubinden und Verzicht auf westliche Bewaffnung des „Pufferstaats“. Im Gegenzug Russlands Verzicht auf die Annexion der Ukraine. Im Ergebnis stünde klassische Imperialpolitik mit Einfluss- und Pufferzonen: Ein Kordon scheinneutraler Staaten gegen die NATO mit Weißrussland, der Ukraine, Transnistrien sowie Armenien.

Die Ukraine ist keine Insel

Angenommen, Putins Ziel sei tatsächlich jenes „Kuba“-Szenario. Dann scheint zumindest der erste Versuch, sich einem solchen zu nähern, beim telefonischen Gipfeltreffen Putin-Biden ohne Erfolg geblieben zu sein. Und auch das hat gute Gründe, denn nicht nur die Geografie, sondern auch Russlands Verhalten selbst lassen ein Kuba-Szenario ausgeschlossen erscheinen.

Kuba, der ehemalige US-Karibik-Mafia-Außenposten, grenzt nicht per Land an die USA. Ein scheinneutraler Status der Insel konnte von der US-Administration geduldet werden, solange dort keine unmittelbar die USA bedrohenden Waffen stationiert wurden. Insofern konnten sich die US-Präsidenten bis heute an die Zusage, auf eine militärische Ablösung des Castro-Regimes zu verzichten, halten.

Die Ukraine aber ist keine Insel, sondern eingebettet in die Territorien von NATO und Russland gleichermaßen. Jeder Schritt vorwärts der einen Seite bedeutet einen Schritt zurück der anderen – und subversives Vorgehen ist weder zu verhindern noch zu kontrollieren. Maßgeblicher aber noch ist der permanente Vertragsbruch Russlands. Die Herren im Kreml versuchen ihn mit einer angeblichen NATO-Zusage zu begründen, wonach es 1990 durch die USA eine verbindliche Zusage gegeben habe, keine NATO-Osterweiterung zuzulassen. Jedoch gilt als verbürgt, dass es eine solche Zusage niemals gegeben hat – und das auch deshalb, weil sie dem Grundverständnis der NATO, wonach die freien Völker selbst über ihre Zugehörigkeit zu Bündnissen zu entscheiden haben, eklatant widerspräche. Unabhängig von wirtschaftlichen Interessen muss die NATO als demokratisch orientiertes Bündnis für jedes Land offenbleiben, welches sich seine Ziele zu eigen macht – auch wenn mit der Türkei seit Ewigkeit ein undemokratischer Eiterherd an der Glaubwürdigkeit des Bündnisses zehrt.

Putin ist kein Vertragspartner

Doch selbst für den Fall, dass NATO und EU dauerhaft bereit wären, dem russischen Bedrohungsgefühl durch Ausgrenzung der Ukraine gerecht werden zu wollen: Der institutionalisierte Vertragsbruch Russlands lässt eine vertraglich-einvernehmliche Lösung nicht zu. So hat die Ukraine als nach der Implosion des Sowjetreichs drittstärkste Atommacht gegen die russische Zusage, die ukrainische Integrität zu garantieren, ihrer atomaren Abrüstung zugestimmt. Hätte sie dieses nicht getan, stünde sie der russischen Bedrohung heute nicht wehrlos gegenüber.

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und faktisch der Ostukraine tun ein weiteres, um russischen Zusagen keinen Glauben zu schenken. Angenommen, der Westen wäre bereit zu einem vertraglichen Verzicht auf Osterweitung Richtung Ukraine – wer wollte Putins Zusagen glauben, damit künftig auf weitere Aggressionen gegen das Land zu verzichten? Wäre Putin bereit, gegen eine solche Zusage von NATO und EU auf seine Unterstützung der Separatisten in Donezk und Transnistrien zu verzichten? Wäre er vielleicht sogar bereit, für eine neutrale Pufferzone die Besetzung der Krim aufzugeben? Man muss kein Prophet sein, um beide Fragen mit einem deutlichen Nein zu beantworten. Der großrussisch-imperiale Instinkt der Moskowiter ist viel zu ausgeprägt, um für eine nur neutrale Ukraine irgendwo Verzicht zu üben.

Putin bestimmt den Moment

Sterben für Kiew? Vielleicht noch in Warschau und im Baltikum angesichts der latenten Gefahr, das nächste Opfer des großrussischen Imperialismus zu werden. Aber nicht in Berlin und Paris. Und in London und Washington schon gar nicht.
Eine im Blitzkrieg zerstörte ukrainische Infrastruktur? Den Russen käme sie nur zurecht auch dann, wenn sie die Ukraine nicht dauerhaft besetzen könnten. Der Erdgasstrom nach Westeuropa kann auch über Nordstream abgewickelt werden – hier wähnt sich Putin nach Fertigstellung am deutlich längeren Hebel.

So steht die Partie gegenwärtig schlecht für die Ukraine. Ein Kuba-Szenario hat keine Substanz. Also wird die Zukunft des Landes letztlich von der Risiko-Abwägung Putins abhängen. Geht der Ex-KGB-Mann davon aus, dass die Schmerzen der gewaltfreien West-Reaktionen für ihn erträglich sein werden – und die bisherigen, bestenfalls wortgewaltigen Aussagen westlicher Politiker werden ihn darin bestärken umso mehr, da ihn die westlichen Krim-Sanktionen bereits in der Vergangenheit zu größerer Autonomie gezwungen haben -, dann kann er seine Armee Richtung Odessa und Kiew marschieren lassen und darauf vertrauen, dass sich die NATO nach kräftigem Aufheulen mit der Grenzziehung entlang Finnland-Baltikum, Polen und Rumänien zufrieden geben muss. Aufhalten ließe sich Russland nur durch eine unmissverständliche Kriegsdrohung der NATO im Falle einer Ukraine-Invasion. Für eine solche jedoch spricht weniger als nichts.

Auch insofern hat Putin den Zeitpunkt seiner Expansionsvorbereitung gut gewählt: Eine nach Brexit wankelmütige Beziehung zwischen Vereinigtem Königreich und EU; neue, noch nicht fest etablierte Regierungen in Washington und Berlin; eine mit Klimakatastrophe und Corona statt mit Geopolitik beschäftigte und beschädigte Gemeinschaft westlicher Demokratien und ein Winter, der Westeuropa ohne russisches Gas frieren lässt.

„Wenn nicht jetzt, wann dann“, singen die Kölner Höhner. Gut möglich, dass Putin gerade mitsingt.

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