Das Positive zuerst: Seit langer Zeit erlebte man die „Anne Will“-Runde selten frisch und lebendig. Den größten Anteil daran hatte Dagmar Rosenfeld, ab ersten Januar neue Chefredakteurin der „Welt am Sonntag“. Nachdem die Gastgeberin gleich zu Beginn die Frage nach einer ersten Beurteilung der gerade gekürten Ampel-Koalition gestellt hatte, war man sich in einem schnell einig: Es war ein Start mit vielen Fotos, gewollter Symbolik und sogar einer Portion Pathos. Schade, dass dieser Aspekt nicht vertieft wurde. Denn er trifft ins Schwarze!
Die Ampel suggeriert bei allen inhaltlichen Gegensätzen eine Aufbruchstimmung, die gerade wegen der Unterschiedlichkeit der Partner eine qualitativ neue Ära in der Bundesrepublik einleiten soll. Ob und wie lange das trägt, bleibt abzuwarten. Dazu passen auch die im Verlaufe der Diskussion kritisierte Zögerlichkeit und mangelnde Eindeutigkeit des neuen Bundeskanzlers Scholz. Sollte man wirklich schon vergessen haben, dass genau diese zweideutige und sybillinische Art ein Schlüssel für die 16 Jahre Herrschaft Angela Merkels war? Doch so kurz nach Amtsantritt ist es viel zu früh, hier schon ein System zu erkennen.
Wie schon gesagt, ging die Journalistin Dagmar Rosenfeld gleich in die Vollen und geißelte die Ampel scharf: In der Corona-Politik habe man sich mit dem Verzicht auf die „Epidemische Notlage“ und einem neuen Infektionsschutzgesetz gleich voll in die Nesseln gesetzt. Der Beweis dafür seien die notwendig gewordenen Nachbesserungen. Der geforderte Nachtragshaushalt von Finanzminister Lindner in Milliardenhöhe strafe den FDP-Chef schon jetzt Lügen. Und drittens – es sei ein Totalversagen von Koalition und Opposition (mit Letzterer waren wohl CDU/CSU und Links-Partei gemeint), dass die AfD für sich den Vorsitz im Innenausschuss des Bundestages sichern konnte.
Unmittelbar legte der als Politologe und „Demokratieforscher“ eingeladene Wolfang Merkel nach. Lange werde sich die Harmonie der Partner nicht halten lassen. Der Druck der Probleme und die notwendigen Entscheidungen seien absehbare „Soll-Bruchstellen“. Als Beispiele nannte Merkel den Umgang mit der Migration, die wachsende und militanter werdende Kritik einer zunehmenden Minderheit an der Corona-Politik der Regierung sowie außenpolitische Streitfragen wie zum Beispiel den Umgang mit China und Russland.
Fast unter ging dabei die Einlassung der Grünen Göring-Eckardt, dass das Hauptmotiv der Ampel die Wiederherstellung der Rechte des Parlaments gewesen wäre, bei gleichzeitiger Aufhebung einer Beschlüsse-Verkündenden-Runde von Kanzlerin und Ministerpräsidenten, die die Verfassung unseres föderalen Staates gar nicht vorsieht. Zugegeben eine komplizierte Materie, und es ist zu hoffen, dass es nur das ist, was Will den Zuschauern nicht zumuten wollte. Verdient hätten diese den kleinen Ausflug ins Grundsätzliche allemal!
Die nächste Frage von Anne Will traf dafür wieder den Kern: „Warum lassen sich immer noch so viele nicht impfen? Was wurde versäumt?“ Natürlich – so Lauterbach und Röttgen – habe es in der Kommunikation Fehler und Schwächen gegeben. Die Faktenlage habe sich aber, so Lauterbach, dramatisch verändert. Der SPD-Mann, der selbst zur Corona-Marke der Medien geworden ist, malte wieder die Apokalypse an die Wand, wenn sich nicht schnell nicht Geimpfte wie Geimpfte die für sie passenden Spritzen verabreichen ließen.
Eindringlich forderte gestern Mittag eine ärztliche Direktorin aus Tübingen, diesen Missstand abzustellen. Warum wird die Situation auf den Intensivstationen nicht transparenter abgebildet? Gibt es besonders betroffene Gruppen in der Gesellschaft? Wie ist die Altersstruktur der Patienten genau, und warum heißt es immer wieder „mit und an Corona verstorben“? Man muss kein Weiser sein, um zu erkennen, dass die verweigerten Antworten das Vertrauen mehr und mehr erschüttern.
Der „Demokratieforscher“ Merkel forderte in Übereinstimmung mit der Runde ein konsequentes Vorgehen des Staates zur Durchsetzung des Impfens, warnte aber gleichzeitig vor einer zunehmenden Verhärtung der Fronten. Im benachbarten Frankreich ist man da ehrlicher. Dort hält selbst Präsident Macron eine gesetzliche Impfpflicht nicht für durchsetzbar und unkontrollierbar. Mit Sicherheit dürfte er dabei an die gewaltsamen Proteste der Gelbwesten vor nicht allzu langer Zeit gedacht haben, die ihn zum Verzicht auf Reformen in der Sozialpolitik gebracht haben.
Die Ursachen, auch für die Impfmüdigkeit, liegen viel tiefer, als uns glauben gemacht werden soll. Für Anne Will wird dies auch weiterhin keine Runde wert sein, gehört sie doch selbst zu denjenigen, die ihre ideologischen Positionen als mehrheitsverbindlich aufoktroyieren. Hoffnung gibt allerdings die auch von Lauterbach hervorgehobene neue Besetzung der Beraterrunde im Kanzleramt mit Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen und unterschiedlicher Meinungen. Zuvor hatte Rosenfeld spitz formuliert: „Merkel hatte eine Meinung, und ließ diese durch von ihr ausgesuchte ‚Experten‘ bestätigen.“ Immerhin ein Schuss Selbstkritik.
Eine lustige Stelle gab es allerdings auch: Merkel bezeichnete die spürbar zögerliche Vergabe des Ministerpostens an Karl Lauterbach als Folge plebiszitären Drucks. Der für die Deutschen längst durch mediale Dauerpräsenz zum „Wunderheiler“ aufgestiegene Lauterbach reagierte verschnupft: „Scholz und ich kennen uns schon seit 18 Jahren. Er braucht keinen öffentlichen Druck, um mich für ein Ministeramt tauglich zu finden.“ Insider hingegen berichten, dass der Kanzler ihn noch bis vor Kurzem für unfähig hielt, einen größeren Apparat zu führen und dabei die Orientierung zu behalten.