Die Musikauswahl beim Zapfenstreich zur Verabschiedung eines Spitzenpolitikers entspricht ungefähr dem letzten Pinselstrich an einem Selbstporträt, also der Signatur. Zu ihrem letzten Kanzlerinnenauftritt in Berlin wünschte sich Angela Merkel bekanntlich die Instrumentalversion von drei Liedern: Nina Hagens „Du hast den Farbfilm vergessen“, Hildegard Knefs „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ und des Chorals: „Großer Gott, wir loben dich“. Die Kombination aus einem kirchlichen Lied an übergeordneter und einem weltlichen an der eigentlich populäreren Stelle folgt einer langen Tradition. Königin Luise von Preußen, eine deutsche Regentin, die völlig zu Recht bis heute gewürdigt wird, bestimmte für das Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche, es sollte zu jeder halben Stunde „Üb’ immer Treu’ und Redlichkeit“ nach der Papageno-Melodie von Mozart spielen, zu jeder vollen „Lobet den Herrn“.
Die mediale Deutung der Merkelschen Musikliste war, kaum dass sie bekannt wurde, schnell abgehakt: Einmal Ost, einmal West, dann die religiöse Überwölbung fürs Ganze. In gewisser Weise passen alle drei Titel zu der Politikerin Angela Merkel, wenn auch anders als von ihr mutmaßlich beabsichtigt.
Beginnen wir mit dem Ostpart, Nina Hagens Farbfilm-Song von 1974, den viele im Westen nicht kennen, dafür aber praktisch jeder vor 1970 geborene Ostdeutsche. Sein Text, geschrieben von Kurt Demmler, beginnt so:
„Hoch stand der Sanddorn am Strand von Hiddensee
Micha, mein Micha, und alles tat so weh
Dass die Kaninchen scheu schauten aus dem Bau
So laut entlud sich mein Leid in’s Himmelblau
So böse stampfte mein nackter Fuß den Sand
Und schlug ich von meiner Schulter deine Hand
Micha, mein Micha, und alles tat so weh
Tu das noch einmal, Micha, und ich geh.
Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael
Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön’s hier war haha, haha
Du hast den Farbfilm vergessen bei meiner Seel’
Alles blau und weiß und grün und später nicht mehr wahr.“
Demmler gehörte zu den sehr ambivalenten Figuren der DDR-Kulturszene, er lehnte trotz eines erheblichen Drucks Spitzeldienste für die Staatssicherheit ab, arbeitete aber auch eng mit der FDJ-Singebewegung zusammen, unterzeichnete die Resolution gegen Biermanns Ausbürgerung, kassierte dafür Auftrittsverbot, erhielt aber später den DDR-Nationalpreis.
Der West-Teil, Hildegard Knefs Song „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ verströmt in einer etwas anderen Tonlage ein radikales und individuelles Freiheitsbekenntnis mit einem Zug ins Solipsistische, vor allem in der Zeile:
„Die Welt sollte sich umgestalten
Und ihre Sorgen für sich behalten.“
Zu den verbreiteten medialen Kurzschlüssen gehörte die Feststellung, Merkel habe sich für den Zapfenstreich ein Ost-Lied gewünscht, weil sie eben aus dem Osten kommt, so, als würde es sich bei ‘Ostler‘ um einen Gattungsbegriff handeln. Dass der Farbfilm-Song nichts mit Merkels Leben in der DDR und ihrem Herkunftsmilieu zu tun hat, weiß sie selbst natürlich am besten.
Ihren Einstieg in die Politik verdankte die bis dahin angepasste und als Westreisende privilegierte Merkel 1989 und 1990 Wolfgang Schnur, Kirchenfunktionär und IM der Staatssicherheit, und Lothar de Maizière, Stasi-Zuarbeiter wie sein Vater. Es gibt keine Verpflichtung, in einer Diktatur zur Opposition zu gehören. Dass sie aus einem autoritären Milieu stammt, in dem auch noch eine dauerhafte Grundverlogenheit den Ton angab, kann ihr keiner vorwerfen. Niemand sucht sich seine Herkunft aus. Aber Nina-Hagen-Punk, Distanz zur herrschenden Ideologie, ein bisschen Anarchie und Risikoliebe – das alles steht so ziemlich für das Gegenteil von Merkels DDR-Leben.
Schon in ihrer Rede am 3. Oktober 2021 hatte Merkel versucht, sich eine gegen den staatlichen Strich gebürstete Biografie zuzuschreiben, die sie nun einmal nicht hat.
Das erinnert ein bisschen an Friedrich Merz‘ Versuch aus den Neunzigern, sich eine wilde Punkvergangenheit im Sauerland anzudichten, an die sich außer ihm niemand erinnern konnte – nur, dass es bei Merkel um das Leben in einer Diktatur geht. Es wäre interessant, wenn sie über dieses Herkunftsbiotop einmal ganz unverstellt sprechen würde, in dem Schild und Schwert der Stasi auch noch mit einem süßlich-theologischen Saucenguss überzogen wurden. Bekanntlich redete sie nie darüber.
Auf diese Weise passt die Musikauswahl mit dem katholischen Choral als Deckel dann doch wieder ganz gut zu ihr, der Meisterin des Schrägvorbeiredens, und neuerdings eben auch des Schrägvorbeimusizierens. Da ist der Stil dieser Frau.
In ihrer Rede zum Zapfenstreich kommt der Begriff Freiheit nur einmal und unpersönlich vor („in meinem Leben in der DDR und erst recht und umso mehr unter den Bedingungen der Freiheit“). Dafür aber gleich mehrmals Vertrauen („das wichtigste Kapital in der Politik“). Was bei ihr nur meinen kann: Andere sollten ihren abrupten Kehrtwenden vertrauen. Vor allem in ihren letzten vier Amtsjahren perfektionierte niemand an der bundesrepublikanischen Regierungsspitze so sehr das etatistische Misstrauen gegen die Bürger wie Angela Merkel. Bürger, das sind in ihren Augen im wesentlichen unvernünftige, chaotische Wesen, denen, wie sie einmal auf ausnahmsweise ganz authentische Art sagte, die Zügel straff gezogen werden müssen.
In ihrer Rede im Hof des Bendlerblocks hieß es: „Unsere Demokratie lebt von der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung und zur Selbstkorrektur. Sie lebt vom steten Ausgleich der Interessen und von dem Respekt voreinander. Sie lebt von Solidarität und Vertrauen, im Übrigen auch von dem Vertrauen in Fakten und davon, dass überall da, wo wissenschaftliche Erkenntnis geleugnet und Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet werden, Widerspruch laut werden muss. Unsere Demokratie lebt auch davon, dass überall da, wo Hass und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen erachtet werden, unsere Toleranz als Demokratinnen und Demokraten ihre Grenze finden muss.“
Und: „Ich möchte dazu ermutigen, auch zukünftig die Welt immer auch mit den Augen des anderen zu sehen, also auch die manchmal unbequemen und gegensätzlichen Perspektiven des Gegenübers wahrzunehmen.“
Das sagt nicht nur eine Politikerin, die in ihre Corona-Expertenrunden ausschließlich die ihr genehmen Stichwortgeber einlud, und von der das schöne Wort „Öffnungsdiskussionsorgien“ stammt. Und auch die Stickrahmenformulierung, jeder könne ja seine Meinung sagen, er müsse dann eben nur mit den Folgen zurechtkommen. Im Wahlkampf 2017 sorgten ihre Leute dafür, dass Astrid Passin, die Sprecherin der Opfer des Breitscheidplatz-Anschlags, aus der ZDF-Sendung „Zur Sache, Kanzlerin“ wieder ausgeladen wurde. Den Virologen Klaus Stöhr, der das eine oder andere an ihrer Corona-Politik kritisch sieht, entfernten ihre Kanzleramtsgehilfen flugs aus der Einladungsliste einer Beratung.
Wie gesagt, für seine Herkunft ist niemand verantwortlich. Aber zum Ende ihrer Amtszeit kommt Merkel exakt beim Predigtton ihres Vaters an, der mit seinen Ermahnungen immer andere meinte, und der aus der Position des strengen moralisierenden Aufsehers zur Herde sprach.
Ob sie je selbst an ihre Verblendungszusammenhänge glaubte: Auch darüber spricht Merkel nie. Und voraussichtlich wird sie es auch niemals tun.
Wenn es eine Figur gibt, mit der Merkel wesens- und wahlverwandt ist, dann Ermyntrud Ippe-Büchsenstein verheiratet Katzler aus Theodor Fontanes „Stechlin“. In einem Monolog der Förstersgattin heißt es: „Wir leben eben nicht in der Welt um unsert-, sondern um andrer willen. Ich will nicht sagen, um der Menschheit willen, was eitel klingt, wiewohl es eigentlich wohl so sein sollte. Was uns obliegt, ist nicht die Lust des Lebens, auch nicht einmal die Liebe, die wirkliche, sondern lediglich die Pflicht.“
Selbstredend richtet auch Ermyntrud Ippe-Büchsenstein-Katzler ihre Forderung in bester Tartuffe-Tradition nur an andere. Sich selbst bietet sie als alternativloses Vorbild an.
Eine Vertonung der Ippe-Büchsensteinschen Ermahnungen gibt es bedauerlicherweise nicht. Aber wenn, dann wäre das der ideale Zapfenstreichsong für Angela Merkel gewesen.