Haben wir noch Sinn für die Inszenierung? Instinkt für Machtdarstellung? Ein Gefühl für Repräsentation, für das Zusammengehen von Ton und Bild, das über das rein Oberflächliche hinausgeht? Der Große Zapfenstreich ist ein solches Relikt, das als alteuropäisches Ritual fortlebt und einen solchen Anspruch mal offensichtlicher, mal subtiler artikuliert. Helmut Kohl wusste seinen Abschied als Kanzler vor dem Dom zu Speyer zu inszenieren. Speyer, das war für Kohl ein zentraler Nexus deutscher und europäischer Geschichte. Das war die Pfalz, seine Heimat; das war die Begräbnisstätte der Salier, des großen deutschen Königsgeschlechts; das war der Kaiserdom eines europäischen Reiches. Kohl lud seine Gäste an diesen Ort, weil er als Erinnerungsstätte regionaler, nationaler und europäischer Identität gilt. Die Bundeswehr spielte „Ode an die Freude“; das Stück eines Rheinländers, eines Deutschen, eines Europäers. Kohl wurde seinerzeit als intellektuelles Leichtgewicht verspottet. Aber er kannte diese Zusammenhänge.
Unter diesen Vorzeichen erlebten wir gestern eine merkwürdige wie unheimliche Zeremonie. Angela Merkel beging ihre Verabschiedung durch die Bundeswehr nicht vor dem salischen Kaiserdom oder – wie Schröder – vor dem neogotischen Rathaus von Hannover. Der Bendlerblock als zweiter Sitz des Verteidigungsministeriums ist eine „rationale“ Entscheidung. Rational, weil ein militärischer Abschied gut in ein militärisches Ambiente passt. Der geneigte Zuschauer könnte dahinter die rationale Kälte vermuten, die man der Kanzlerin andichtet. Genau das ist es, was dieser Ort verkörpert. Rationale Kälte, Nüchternheit, Sachlichkeit, Modernität. Es ist nicht das Deutschland der Kirchtürme und der Rathäuser, von geistiger Größe und Bürgerstolz. Die alte Bundesrepublik ist tot. Die neue zeigt sich seltsam schaurig.
Merkel warnt. In ihrer letzten Rede spricht sie davon, dass Demokratie „von der Fähigkeit zur kritischen Auseinandersetzung und zur Selbstkorrektur“ lebe. „Sie lebt vom steten Ausgleich der Interessen und von dem Respekt voreinander. Sie lebt von Solidarität und Vertrauen, im Übrigen auch von dem Vertrauen in Fakten und davon, dass überall da, wo wissenschaftliche Erkenntnis geleugnet und Verschwörungstheorien und Hetze verbreitet werden, Widerspruch laut werden muss.“ Die Demokratie lebe auch davon, dass überall da, wo „Hass und Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung eigener Interessen erachtet werden“ die Toleranz eine Grenze finden müsse. Man könnte dem beipflichten. Aber angesichts der Zustände in Deutschland, in denen nicht erst seit Corona die Mauern hoch- und die Gräben tiefer gezogen werden, ja sogar die Spaltung der Gesellschaft begrüßt wird – wo ist da der Ausgleich? Wo der Respekt? Wo das Vertrauen? Gab es je eine einzige Selbstkorrektur in der politischen Vita einer Frau, die ihren alternativlosen Pfad der Republik so sehr aufpfropfte, dass heute Millionen Menschen eine Partei wählen, deren Slogan diese auf Schicksalswegen wandelnde Ideologie karikiert? Was ist mit dem Vertrauen in den Souverän, dem Rechte entzogen, Pflichten auferlegt – und vor dessen Haus ein metertiefer Graben gezogen wird, der Volk und Vertretung trennt? Auch das: ein Bild, das man gerne länger deuten würde.
Es gibt in ihrer Rede einen Satz, der hervorsticht. Er steht ganz am Anfang. Sie empfände vor allem „Demut und Dankbarkeit“. Merkel pflegt seit jeher den Stil des Schlichten, Einfachen, des Sparsamen. Es hat ihr einen Nimbus eingebracht. Und er wird direkt von den Kommentatoren aufgenommen, deren Verliebtheit für die Kanzlerin der Schwärmerei für so manchen Prinzen oder Prinzessin bei Live-Berichterstattungen aus dem Vereinigten Königreich nahekommt. Denn auch ihre Kanzlerschaft sei ja von „Demut und Dankbarkeit“ gekennzeichnet gewesen. Es bleibt bei diesem geschwätzigen Tonfall aus Klatsch und Tratsch nach einer Kanzlerschaft, die dieses Land vielleicht mehr geprägt hat als jede andere. Kostproben? „Wir hörten ‚Du hast den Farbfilm vergessen‘ vielleicht auch eine Hommage an ihre Heimat, sie ist ja Ostdeutsche, die erste ostdeutsche Kanzlerin.“ – „Rote Rosen soll es regnen, das war 1968 ein Hit.“ – „Vielleicht ist es eine Hommage an die Generation ihrer Mutter.“ – „Großer Gott, wir loben dich.“ – „Auch das hängt ja eng mit ihrer Biografie zusammen, die Pfarrerstochter und Protestantin.“ – „Und das in der damaligen DDR.“ – „Ja, hier sind die Sachen miteinander verknüpft.“ Der Zuschauer, der seit Jahren das öffentlich-rechtliche Fernsehen gemieden hat, muss unweigerlich damit rechnen, dass die Kanzlerin mit einer blattgoldverzierten Kutsche in den Innenhof eingefahren sein könnte. Merkel: keine Politikerin, sondern ein gesellschaftliches Ereignis. Tagtäglich.
Ihre Identität zimmert sie sich selbst. Auch heute. Mit ihrer Liederauswahl schafft sie ein Bild von sich, das andere begierig rezipieren und interpretieren. Machiavellis vielleicht wichtigste Feststellung über den Fürsten lautet: Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist. Es sollte dabei nicht verwundern, dass sie auch moderne Lieder wählt. Das haben schon Minister vor ihr, und Schröder hatte mit „Summertime“, „Mackie Messer“ und „My Way“ keinen einzigen klassischen Musikwunsch an die Kapelle. Das Sammelsurium ihrer Wahl soll eine biografische Botschaft sein – und verwirrt damit umso mehr. Das gilt nicht nur für die Lieder von Nina Hagen und Hildegard Knef, sondern gerade für den Choral am Abschluss. „Großer Gott, wir loben dich“ – eigentlich ein urkatholischer Stoff, der beim antiprotestantischen Fronleichnamsfest zum Einsatz kommt. Wäre für eine protestantische Pfarrerstochter nicht eher ein Bekenntnis zu Bach oder zumindest Luthers Version – Herr Gott, dich loben wir – zu erwarten gewesen? Nein, dagegen kann man nicht argumentieren, dass das Stück mittlerweile auch überkonfessionell beliebt ist.
Wenn ein japanisches Orchester die „Ode an die Freude“ spielt, dann ist das begrüßenswert, aber das macht Beethovens 9. Sinfonie nicht zu einem japanischen Stück. Inhärenz und Identität sind seit der Kanzlerschaft Merkels, in der als Pragmatismus getarnter Relativismus regierte, zu Problemfeldern geworden. Womöglich war es ihr auch schlichtweg egal. Doch wenn man seine Biografie per Musik transportieren will, bedeutet es entweder, dass man sehr genau weiß, was man tut, oder der Hybris der Bildungshuberei verfällt. Das ist etwa auf dem Niveau, bei der Frage nach der abendländischen Kultur auf das Studium von Kirchenfenstern oder auf Blockflötenmusik an Weihnachten zu verweisen. Die Geschichte von der Pfarrerstochter wirkt dadurch ebenso unglaubwürdig wie der vermeintliche Widerstand in der DDR durch Nina Hagens „Farbfilm“. Nachdem es bereits rote Rosen auf sie herabregnete, bestellt sie ein Te Deum zum Abschluss für sich. Merkel ist das einzige Regierungsoberhaupt der Bundesrepublik, das es – bisher – wagte, einen Papst zu kritisieren. Demut und Dankbarkeit.
Es folgt der letzte Topos: Merkel, die sachliche, rationale Entscheiderin. „Die Kanzlerin war von Haus aus Wissenschaftlerin – wird uns diese Haltung fehlen?“ Ja. Man werde ihre Fähigkeit vermissen, langfristig zu denken. Kaum eine Entscheidung Merkels, die wie ein Bumerang zurückkommt, doch im ARD-Studio trauert man bereits jetzt der Strategin nach, die nur zufälligerweise die krisenreichste Zeit der europäischen Geschichte nach dem Mauerfall betreut hat. Dass der Zapfenstreich mittlerweile nur noch als Nebenbild gezeigt wird, indes die Journalisten im Hauptbild diskutieren, sagt einiges über das Selbstverständnis des öffentlich-rechtlichen Journalismus auf. Nicht der Zapfenstreich, sondern das Gespräch ist nun Hauptereignis, für das der Zuschauer eingeschaltet hat. Erst bei der Nationalhymne merkt der Moderator im Studio, dass man vielleicht mal zurückschalten sollte.
Doch nicht nur die Beteiligten und Berichterstatter sind vom Ereignis überwältigt. In den übrigen Medien sieht es nicht anders aus. Sie sehen einen Zapfenstreich, der ebenso wenig existiert wie die stilisierte Kanzlerin. Sie nehmen die inszenierten Bilder wahr und blenden andere aus. Vom Lob für den musikalischen Geschmack Merkels bis hin zum Bekenntnis ist an dem Abend alles drin. Eine Bild-Journalistin bezeichnet sie als „größtes Vorbild“. Der Chefredakteur der Welt postete nochmals ein „Danke Merkel“. Die Speerspitze der FFF-Jugend sprach von einem beklemmenden Abschied, man wisse Merkel für so vieles zu schätzen. Auch Oppositionspolitiker machten aus ihrer Schwärmerei keinen Hehl. Für republikanische Verhältnisse eine bemerkenswerte Einheit, die weit über staatsmännische Anerkennung hinausging. In der katholischen Kirche hat man insbesondere in den letzten Jahrzehnten eine gewisse „Papolatrie“ beklagt, die den Papst selbst zu einem unhinterfragbaren Idol macht. Auch bar jedweder Auswahl durch den Heiligen Geist hat offensichtlich hierzulande ein sehr ähnliches Phänomen Raum gewonnen. Freilich verbieten sich Vergleiche mit einer Monarchie. Die Fürsten vergangener Zeiten waren aufständischer gegen ihren König. Der oft angekündigte Aufstand innerhalb ihres Fürstenrates blieb dagegen 16 Jahre aus. Otto der Große und Karl V. hätten von einer solchen Gefolgschaft nur träumen können.
Schließlich ist es vorbei. Man will zum Abschluss sagen: Ade Principessa; Großer Gott, wir loben dich. Doch irgendwie beschleicht einen das Gefühl, dass gewisse Schatten nie verschwinden. Sie vergehen nicht im flackernden Fackelfeuer, sondern legen sich auf die Fassaden des Innenhofs.