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Aldi und seine Karotten-Familie: Gemüse im Kopf

Aldi wollte zu Weihnachten mit einer idyllischen Karottenfamilie auftrumpfen. Das brachte die Tugendwächter auf die Barrikaden: das „Abziehbild“ diskriminiere Schwule und Lesben. Dabei ist offensichtlich, dass die vermeintlich progressiven Ankläger selbst bigotte Sykophanten sind.

screenprint / Aldi

Deutschland hat ein Problem. In einer strukturell rassistischen Gesellschaft kann man sich schnell an Ungerechtigkeiten gewöhnen. Daher übersieht man immer wieder die wahren Abgründe, das tatsächliche Leid und die reale Not in diesem Land. Jüngst betroffen ist eine kaum wahrgenommene, unterprivilegierte Minderheit. Die Gesellschaft sieht auf sie herab oder ignoriert sie. Viele wollen mit Vertretern aus ihren Reihen aus moralischen Gründen nichts mit ihnen zu tun haben. Andere haben politische Vorurteile.

Ich spreche von Karotten.

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Viel zu lange hat die diverse Gesellschaft die Anmaßung ertragen, die diese schützenswerte Gemeinschaft in den letzten Tagen ertragen musste. Stein des Anstoßes ist die Aldi-Vorzeigefamilie aus den Karotten Kai und Karla, sowie den Kindern Michel, Mia und Merle. Der Fall sorgte in den sozialen Medien für Aufruhr, nachdem eine Autorin die Vorzeige-Karotten als „Abziehbild“ traditioneller Familien und Rollenbilder bezeichnete, und darin eine Diskriminierung von Schwulen und Lesben erkannte. Queere Menschen, die immerhin 15 Prozent der Deutschen ausmachten – dass die Autorin dabei eine Statistik bemüht, bei der sie 8 Prozent der Befragten „ohne Angabe“ großzügig dazurechnet, steht auf einem ganz eigenen Blatt –, würden übergangen. Ein inspirierender, ein mutiger Text, der die Augen für den diskriminierenden kapitalistisch-sexistischen Komplex öffnet. So scheint es.

Denn wer jetzt fürchtet, eine reaktionäre Karotten-Familie könnte den Lebensstil seiner eigenen queeren Sellerie-Lauch-Zwiebel-WG mit ihren polyamorösen Idealen diskriminieren, der irrt nicht nur, sondern fällt selbst auf die antrainierten Reflexe des patriarchalischen Systems herein. Seit wann ist es erlaubt, vom Äußeren auf das Geschlecht zu schließen? Wir haben schließlich das Jahr 2021. Männer dürfen Schleifen tragen, Mädchen gerne auch mal einen Namen wie Michel. Wo ist das Problem? Die vermeintlichen Tugendwächter sehen durch Schablonen. Wenn sie nicht anerkennen wollen, dass Karla möglicherweise mal Karl hieß und jetzt gerne Lippenstift, Mascara und falsche Augenwimpern trägt, dann ist das sein/ihr Recht. In Wirklichkeit werden Karotten mit alternativen Lebensmodellen diskriminiert, weil die Urheberin ihre ureigene traditionelle Weltanschauung auf Gemüse projiziert.

Vielleicht identifiziert sich Kai gar nicht als deutsche Karotte, sondern als peruanische Kartoffel oder holländische Tomate. Niemand weiß, ob die Karotten-Kinder über Patchwork, Adoption oder Leihmutterschaft in die Familie gekommen sind. Hat sich irgendeiner der verantwortlichen Redakteure die Mühe gemacht, die Opfer dieser Kampagne zu fragen? Biologische Äußerlichkeiten wie etwa eine Karottenform sagen nichts darüber aus, welches Geschlecht – oder gar welche Gemüsesorte man hat. Die Diskussion um die Religionszugehörigkeit der Familienmitglieder wurde dabei nicht einmal angeschnitten. Nicht jeder, der eine Weihnachtsmütze trägt, ist Christ, und unter einem Karottenkopftuch kann auch eine progressive feministische Buddhistin stecken. 

Die Sprache des Koalitionsvertrages:
Kultur gibt's ab sofort barriere- und diskriminierungsfrei
Die cis-heteronormativen Vorurteile sitzen tief. Unser Problem sind nicht die Karotten-Familien in diesem Land mit ihren eigenen Lebensentwürfen, sondern junge weiße Frauen, die sich zum Richter über alternative Gemüsefamilien aufschwingen, weil sie in ihrer spießigen Vorstadtwelt es einfach nicht ertragen können, wenn Baby Merle schwarzen Hip-Hop hört und später mal einem tunesischen Großclan in Duisburg-Marxloh angehören will. In dieser bigotten Welt haben eigene, kreative Lebensentwürfe keine Chance. Es ist Zeit, sich mit den wahren Problemen im Lande endlich grundsätzlich zu beschäftigen. Wir brauchen dringend noch mehr Genderlehrstühle an den tristen Universitäten, wenn sogar die selbsternannten Speerspitzen der Wokeness in ihren Vorurteilen festhängen, im besten Fall in Verbindung mit der landwirtschaftlichen Fakultät. Mit den lobenswerten Segnungen der Ampel dürfte aber durch eine sinnvolle Erweiterung des Selbstbestimmungesetzes auf Gemüse- und Obstsorten endlich Bewegung in die Debatte kommen.
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