Am Abend der letzten Bundestagswahl, als auch noch dem Letzten klar wurde, dass der langgehegte Plan der CDU, sich selber überflüssig zu machen, endlich zu einem großartigen Erfolg geführt hatte, war bereits absehbar, dass uns nichts Gutes erwarten würde. Eine von SPD und Grünen dominierte Koalition war unvermeidlich, da die CDU sich selbst aus dem Spiel genommen hatte.
Überdies zeichnete sich schon kurz nach der Wahl ab, dass es der FDP in einer solchen Kombination nicht leichtfallen würde, zumindest in Teilbereichen vernünftige Argumente zur Geltung zu bringen, soweit sie es denn überhaupt beabsichtigte. Ein Schlüssel zum Koalitionsvertrag, wie er jetzt beschlossen wurde, ist daher auch die innere Gespaltenheit der FDP. Einerseits ist sie eine Partei, die Wähler vertritt, denen die CDU in den letzten Jahren zu profillos geworden war, sowohl in der Wirtschafts- und Sozialpolitik als auch mit Blick auf Reizthemen wie Immigration.
So soll ein ressortübergreifender nationaler Aktionsplan für Akzeptanz und Schutz sexueller und geschlechtlicher Minderheiten mit 70 Millionen Euro dotiert werden. Der Gedanke, dass geschlechtliche Identität wesentlich auch durch biologische Faktoren bestimmt ist, wird ad acta gelegt, da es jeder Person in Zukunft selbst überlassen bleibt, welchem Geschlecht sie sich zuordnen will. Ein Blick auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen über ähnliche Fragen in Großbritannien zeigt, dass man damit eine Büchse der Pandora öffnet. Zum einen stellt sich die Frage, ob Personen, die erklären, sie seien weiblich, aber rein körperlich eher männliche Züge tragen, damit auch uneingeschränkten Zugang zu Räumen erhalten, die bisher für Frauen im biologischen Sinne reserviert waren – auch aus Gründen des Schutzes. Zum anderen liegt es nahe, nun den Gedanken zu tabuisieren, es gäbe doch so etwas wie ein angeborenes biologisches Geschlecht. Der nächste Schritt wäre dann, Männer und Frauen, die diesen Gedanken dennoch vertreten, mit den Mitteln der Cancel-Kultur oder gar unter dem Vorwand, ihre Äußerungen seien „hate-speech“, auch mit strafrechtlichen Sanktionen aus dem öffentlichen Diskurs zu verbannen, wie es vor Kurzem in England der Professorin Kathleen Stock widerfahren ist.
Die Bedeutung der Migrationspolitik
Hinter der Migrationspolitik steht aber eigentlich die Vision einer perfekten multikulturellen Gesellschaft ohne eigenen kulturellen Kern, mit umfassender positiver Diskriminierung (etwa Quoten) für Minderheiten aller Art, so wie sie heute schon ansatzweise in Kanada zur Wirklichkeit geworden ist. Das lässt der Koalitionsvertrag, der hier vor allem die Handschrift der Grünen trägt (darauf deutet unter anderem das geplante „Partizipationsgesetz“ hin), dann doch ansatzweise erkennen. Die kulturelle Diversität wäre dann so groß, dass schon aus diesem Grunde liberal-konservative Parteien, die sich zumindest teilweise am traditionellen Nationalstaatsgedanken orientieren, wie es die CDU vor Merkel einstmals tat, für immer chancenlos wären. SPD und Grüne hätten sich ihre Macht dann auf Dauer gesichert, zumal sie ihr Wählerreservoir jederzeit durch Immigration vergrößern könnten. Die FDP würde man in einigen Jahren als Partner dann auch nicht mehr brauchen, weil sie von dieser Entwicklung sicher weniger profitieren würde als ihre Partner, und was können sich Scholz und Habeck mehr wünschen, als eine Konstellation, in der sie die FDP gar nicht mehr als Mehrheitsbeschaffer benötigen?
Allerdings würde die Regierung mit ihrer stärkeren Öffnung des Zugangs zur Staatsbürgerschaft (natürlich alles unter den Bedingungen der weitgehenden Doppelstaatsbürgerschaft) auch für rezente Immigranten gar nicht so viel anders verfahren als kleine EU-Staaten wie Zypern oder Malta, die ihre Staatsbürgerschaft meistbietend an wohlhabende Interessenten verkaufen. Das würde Deutschland nicht tun, sondern den deutschen Pass einfach nur verschenken, das dann allerdings nicht wie beispielsweise Zypern an Hunderte oder Tausende, sondern an Hunderttausende oder gar – über die Jahre hinweg – an Millionen. Europapolitisch wäre das dennoch brisant, denn auf diese Weise Eingebürgerte würden damit eben in der ganzen EU Bürgerrechte genießen und könnten sich auch bei Bedarf in jedem beliebigen Land niederlassen. Da fast alle Nachbarn Deutschlands – selbst Schweden – in der Migrationspolitik die Zügel zurzeit eher anziehen, wäre Deutschland damit in der EU ein gefährlicher Geisterfahrer. So könnten zumindest unsere Nachbarn das sehen.
Kanada, dessen Gesellschaft den Koalitionären als Vorbild dienen mag (Habeck sieht sich mit seinem cremigen Charme vermutlich schon als deutschen Trudeau), setzt zwar ganz auf die Karte des Multikulturalismus und einer umfassenden Antidiskriminierungspolitik, die alle „bedenklichen“ Äußerungen, die den multikulturellen Frieden oder das subjektive Wohlbefinden von Minderheiten stören könnten, sprachpolizeilich zu kriminalisieren sucht. Aber Kanada versteht es dennoch, eine reine Armutseinwanderung dank eines entsprechenden Punktesystems weitgehend einzudämmen. Davon wird im neuen Ampel-Deutschland wohl eher nicht die Rede sein.
Das wiederum wird die soziale Ungleichheit wachsen lassen, denn es wird eben aller Voraussicht nach in erheblichem Umfang Armut importiert. Darauf wird es wie in der Vergangenheit trotz zum Teil gegenteiliger Lippenbekenntnisse aber hinauslaufen, wenn man eine große Zahl von beruflich schlecht qualifizierten Migranten ins Land lässt, die noch dazu kulturell nur begrenzt anpassungsfähig sind. Es wird nicht lange dauern, bis das den Ruf nach Ausgleich und mehr Umverteilung lauter werden lässt, der jetzt schon allenthalben erklingt, und von dem die Politik der Koalition ja auch bereits inspiriert wird, man denke an den höheren Mindestlohn oder marktwirtschaftlich gesehen problematische Maßnahmen zur Begrenzung des Anstiegs der Mieten. Verwirklicht wird dieser Ausgleich dann auf Kosten der Mittelschicht, der natürlichen Klientel der FDP. Ohne es zu realisieren, gräbt sich somit die FDP durch eine noch liberalere Migrationspolitik als bisher womöglich das eigene Grab, aber das scheint der Partei nicht bewusst zu sein.
Bedenkliche fiskalische und europapolitische Weichenstellungen
Wie die vielen Projekte der Koalition, allen voran der klimaneutrale Umbau von Wirtschaft und Verkehr bei stetig wachsenden Kosten des Sozialstaates finanziert werden sollen, bleibt ohnehin unklar. Diese Frage wurde bei den Verhandlungen bewusst ausgeklammert, wohl auch deshalb, weil es zu diesem Zeitpunkt für die FDP noch zu gefährlich gewesen wäre, einer offiziellen Aufhebung der Schuldenbremse oder höheren Steuern zuzustimmen. In zwei oder drei Jahren, wenn die Probleme sich noch einmal zugespitzt haben werden, wird das aber vielleicht anders aussehen. Das lässt sich zurzeit schwer vorhersagen, zumal bis dahin eine steigende Inflationsrate noch einmal ganz neue sozialpolitische Probleme geschaffen haben wird, auch dank der Politik der EZB. Die wird mit Sicherheit einstweilen weiter auf finanzielle Repression ausgerichtet bleiben, weil man nur so den Süden der Eurozone und Frankreich entlasten kann.
Aber ein solches Bekenntnis wird bei unseren „Partnern“ als Signal gedeutet werden, dass Deutschland mehr als andere Länder bereit sein wird, Opfer für das Ziel der europäischen Einigung zu bringen, Opfer in Form von deutlich mehr finanziellen Transfers und in Form einer immer stärker wachsenden gemeinsamen Verschuldung aller EU- oder zumindest aller Euro-Länder. Die Weichen dafür hat ja schon Merkel gestellt in ihrer Amtszeit – wie übrigens die gesamte Politik der neuen Koalition in weiten Bereichen nur die Fortsetzung der Merkelschen Politik ist. Vorangetrieben wurde die Vollendung der europäischen Haftungsunion aber auch vom damaligen Finanzminister Scholz, dem zukünftigen Kanzler. Der Mann ist offenbar stolz darauf, dass er nicht rechnen kann – anders kann man sein Verhalten auch in anderen, sozialpolitischen Fragen nicht nachvollziehen. Was er freilich mit vielen Amtsvorgängern gemeinsam hat. Nun gut, Scholz hat sich einen Namen ja unter anderem als überzeugter intersektioneller Feminist gemacht, wie wir alle wissen, da muss man dann auch nicht unbedingt rechnen können, das wäre dann eher ein Zeichen für toxische Männlichkeit.
Die Kosten, die auf Deutschland auf Grund der immer stärker werdenden Haftungsunion auf europäischer Ebene zukommen, werden erheblich sein. Spätestens, wenn längerfristig die Zinsen wieder steigen – und steigen sie nicht, werden sich eine trabende Inflation und eine immer stärkere Abwertung des Euro gegenüber dem Dollar wohl kaum vermeiden lassen – wird man von Deutschland verlangen, den südlichen Ländern der Eurozone einen großen Teil der Lasten des Schuldendienstes abzunehmen, wie das über die gemeinsamen EU-Schulden (Corona-Fonds) in Höhe von einstweilen knapp einer Billion und die diversen Rettungsfonds der Eurozone im Grunde genommen jetzt schon geschieht. Bei steigenden Zinsen könnten dann, rechnet man zusätzliche direkte Transfers ein, auf denen Paris und Rom sicher bestehen werden, rasch jährliche Kosten von 60 bis 80 Milliarden Euro, wenn nicht gar in noch größerer Höhe entstehen.
Scholz und Habeck haben bereits in der Vergangenheit klar gemacht, das sie sich auf all das explizit einlassen wollen. Da stellt sich natürlich die Frage, wie man dann die übrigen ehrgeizigen Projekte der neuen Regierung (Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, Stabilisierung des Rentenniveaus etc.) finanzieren will. Das wird faktisch ohne erhebliche Steuererhöhungen kaum möglich sein. Und die Wahrscheinlichkeit, dass man hier in einigen Jahren vor einem fiskalpolitischen Scherbenhaufen stehen wird, ist sehr hoch.
Insgesamt können sich unsere Nachbarn in Europa über eine Regierung, die noch weniger als ihre Vorgängerin bereit sein wird, offen für deutsche Interessen einzutreten, natürlich durchaus freuen. Etwas Besseres hätte ihnen ja kaum passieren können. Aber sind Frankreich und andere Länder, die auf die deutsche wirtschaftliche Stärke oft mit Missgunst geblickt haben, mit einer Regierung, deren Politikverständnis bestenfalls durch naiven Idealismus, wenn nicht gar in vielen Fragen durch Traumtänzerei geprägt ist, wirklich so gut bedient?
Sieht man einmal von der Energiepolitik ab, wo sich bereits starke französisch-deutsche Konflikte abzeichnen (Kernkraft), wird auch eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik ein Problemfeld sein. Aber auch hier gibt es ja Zeichen der Hoffnung, denn Deutschland, so steht es im Koalitionsvertrag, will jetzt eine „feministische Außenpolitik“ betreiben. Wie man aus gewöhnlich gut informierten Kreisen hört, haben Putin und die Regierungen in Peking und Kabul schon mit großer Nervosität auf diese Ankündigung reagiert. Der Kombination von intersektionellem Feminismus im Kanzleramt und feministischer Außenpolitik unter der Leitung der renommierten Völkerrechtlerin Annalena Baerbock werden sie sich kaum gewachsen zeigen, das zeichnet sich jetzt schon ab. Einer moralischen Großmacht, wie Deutschland es in den nächsten Jahren sicher sein wird, kommt daher eine ganz neue weltpolitische Bedeutung zu, das mag uns zum Trost gereichen, wenn es auch sonst steil bergab gehen wird.