Im Nachhinein lässt sich sagen, dass die Verfrachtung der 2.000 Migranten vom Grenzübergang Brusgi–Kuznica in die nahegelegene Logistikhalle sicher kein zufälliges Manöver war. Was man in Polen schon frühzeitig ahnte, traf nun ein. Der Migranten-Stützpunkt bei Brusgi ist ein symbolischer Ort, eben weil er in der Nähe des umkämpften Grenzübergangs liegt. Er eignet sich also ausgezeichnet für Propagandainszenierungen.
Niemand solle zu etwas gezwungen werden, sagte Lukaschenko in einer kleinen Ansprache. »Wenn ihr Richtung Westen ziehen wollt, werden wir euch nicht festnehmen, unterdrücken oder schlagen. Es ist eure Wahl. Geht durch. Geht.« Man werde die Migranten auch nicht mit gefesselten Händen in Flugzeuge verladen, wenn sie das nicht wollten.
Einige hundert Migranten wurden inzwischen zurück in den Irak geflogen. Inzwischen zeigt sich aber eine gewisser Zögerlichkeit in den Aussagen der weißrussischen Führung. Man wartet anscheinend darauf, dass Berlin das Versprechen einer Übernahme der 2.000 von Brusgi wahrmacht.
Polen drängt zu politischem und wirtschaftlichem Druck gegen Weißrussland
Warschau sieht in all dem eher eine neue Taktik als ein Entspannungssignal. In Berlin forderte Mateusz Morawiecki die Bereitschaft der westlichen Partner, sich gegen die hybride Taktik Weißrusslands zu verteidigen. Der Premier sprach gar von »staatsgesteuertem Terror«. Doch Polen will sich keiner Erpressung fügen. Als Antwort erwägt man neben der Schließung von Grenzübergängen für Autos und Bahnen auch Sanktionen.
Morawiecki: Keine Ersatzthemen suchen
Natürlich, und das darf man gern als Parteilichkeit sehen, wies Morawiecki bald darauf hin, dass viele der aktuellen Krisen im östlichen Europa an Fäden hingen, die in Moskau zusammengehalten werden, also neben Weißrussland die Krisen in der Ukraine oder in Moldawien, die beide von Russland mittels einer »Energieschlinge« (mit dem Risiko des Blackouts) erpresst würden, daneben Krisen »an anderen Orten« und auf dem Westbalkan, der zügiger in die EU integriert werden müsse. Das ist die polnische Sicht auf die Lage, die vielleicht nicht ganz unbedeutend ist, wenn es um die Sicherheit im östlichen Europa geht, zumal den Polen – im Gegensatz zur Kanzlerin – wirklich eine Abstimmung mit ihren Nachbarn zuzutrauen ist.
Morawiecki stellte fest, dass sein Land heute »auch Deutschland vor einer großen Welle von Migranten« verteidigt. So habe man auch die »Welle« der Destabilisierung aufgehalten, auf die es Lukaschenko – und hinter ihm Putin – abgesehen hätten. Man habe gemeinsam mit der EU Flüge gestoppt und natürlich die Grenzen dicht gehalten. Aber der polnische Premier befürchtet weitere »Einladungen« durch Lukaschenko, beispielsweise aus Afghanistan. Bedeutsam scheint ein abschließender Satz des polnischen Premierministers: »Wir sollten uns auf diese großen Risiken konzentrieren und keine Ersatzthemen suchen.« Kurz danach wollte er auch mit Kanzler in spe Olaf Scholz sprechen – in dessen Koalitionsvertrag kann man einige dieser Ersatzthemen finden, zum Beispiel die Ermutigung »regulärer Migration«, die nach rot-grün-gelbem Wunschdenken offenbar ihre irreguläre Schwester aufsaugen soll.
Von dieser – bleibenden – Ausrichtung des westlichen Nachbarn dürfte auch Morawiecki wissen. Insofern blieb ihm nichts weiter übrig, als die Einheit der EU als Mittel gegen alle äußeren Versuchungen zu empfehlen. Am Tag des Treffens von Merkel und Morawiecki kam es übrigens zu einem Ausbruchsversuch im polnischen Ausländerzentrum Wędrzyn. 600 dort festgehaltene Männer – mehrheitlich aus dem Irak – versuchten, den Lagerzaun zu durchbrechen. Die Situation konnte von Grenzschutzbeamten und anderen Diensten unter Kontrolle gebracht werden. Wędrzyn liegt etwa 50 Kilometer östlich von Frankfurt an der Oder.
Im selben Moment haben nicht nur die Polen – notgedrungen – praktisch ihren gesamten Grenzschutz an die Grenze zu Weißrussland geworfen. Auch diesseits von Oder und Neiße, in Brandenburg und Sachsen, findet praktisch kein Grenzschutz mehr statt, obwohl die Bundespolizei darauf brennt, ihn zu leisten. Doch ohne Notifikation der zuständigen EU-Behörden geht da in diesen Zeiten nichts mehr. Und diese EU-Notifikation hat der scheidende Innenminister bekanntlich nicht vorgenommen.
Litauen: Aufgriff verschleppter Migranten?
Am Dienstag läuft der Frontex-Einsatz an der litauisch-weißrussischen Grenze aus. Doch das Land hat sich mit Frontex-Direktor Fabrice Leggeri auf eine lückenlose Verlängerung der Operation geeinigt: »Die Mission wird enden, aber Frontex wird in Litauen bleiben.« An der Grenze des Landes steht bereits ein vier Meter hoher Sicherheitszaun mit Hochtechnologie. So sind Kabel mit Sensoren im Boden verlegt, die den Mitarbeitern im Kontrollraum sagen, ob ein Mensch, ein Tier oder ein Fahrzeug einen bestimmten Punkt passiert hat. Der Zaun schütze »unsere Traditionen und die Demokratie« gegen die Feinde der freien Welt, sagte der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im litauischen Parlament, Laurynas Kasčiūnas, gegenüber Medienvertretern.
Insgesamt wurden laut dem litauischen Grenzschutz sieben Mal so viele Menschenschmuggler festgenommen wie in anderen Jahren. Zuletzt scheint die Einschleusung per LKW ein Problem geworden zu sein. Am Freitag drohte das Land damit, seine Grenzübergänge mit Weißrussland zu schließen, wenn noch mehr Einschleusungsversuche mit LKWs festgestellt werden.
Die polnischen Grenzschützer berichten täglich von mehreren Durchbrüchen: Am Freitag gab es etwa zwei Gruppen von 100 und 200 Mann, darunter Schleuser aus Georgien und Russland. Bei einer Verteidigungsaktion bei Białowieża wurden zwei polnische Soldaten leicht verwundet. die weißrussischen Einheiten hatten erneut Laser und Stroboskoplicht eingesetzt.