Konrad Adenauer und Helmut Kohl hielten sich für unersetzlich. Der unerschütterte Glaube an sich selbst bewahrte sie nicht davor, durch einen Nachfolger ersetzt zu werden. Reicht das aus, um Parallelen für den Niedergang der Merkel‘schen Kanzlerschaft zu suchen? Jan Friedmann und elf weitere Kollegen haben in „Herbst der Macht“ ein Potpourri zusammengetragen, das an Harmlosigkeit kaum zu überbieten ist. Assistiert wird das durch den Leitartikel „Postfaktisches Regieren“ aus der Feder von Chefredakteur Klaus Brinkbäumer, der sich liest wie ein mittelmäßiger Management-Ratgeber. Man wird den Eindruck nicht los, dass es der Redaktion weniger um die Analyse der Versäumnisse geht als darum, mit dem Beitrag einen Ruck durchs Kanzleramt gehen zu lassen, um Merkel auf Spur zu bringen. Ein herzliches „Wir schaffen das!“ an die Kanzlerin und ihre Entourage im „Bunker“ gewürzt mit dem Ehrgeiz, die „K“-Frage zu beschleunigen. Wie blauäugig!
Titelgeschichte und Leitartikel selbst sind im Postfaktischen angekommen. Wo andere mit der Entfachung großer Gefühle reüssieren, kann selbst eine SPIEGEL-Redaktion nicht hintanstehen. Ein fataler Weg, wenn Stimmungsbilder und Meinungen als Nachrichten verkauft werden.
Die Entrückung geschieht in dem Maße, in dem die Komplexität zunimmt. Sie ist systemimmanent, die Keimzelle ist im Anfang bereits angelegt. Indem immer mehr Themen in einer Hand gebündelt werden, wird weniger Sorgfalt darauf verwendet, das einzelne Geschehen zu erklären. Jede Kanzlerära dreht das Rad ein Stück weiter. Und die Medien tun ein Ihres dazu, das zu beschleunigen, indem sie immer mehr Themen zu Kanzlerverantwortung erklären.
Den freien Fall in die Entrückung könnte man nur aufhalten, indem man im Wissen um die Gefahr wie bei einem Lawinenschutzprogramm hintereinander gestaffelte „Fangzäune“ errichtet. Das aber gibt das politische System, in dem sich Einzelpersonen (gegeneinander) in Stellung bringen, nicht her. Früher entschieden bei Wahlen Faktoren wie Stabilität und Wirtschaftswachstum. Heute sind es Projektionen zugunsten oder zuungunsten einiger weniger Personen.
Jetzt hat Angela Merkel auch für bald den letzten Wähler ihren Heiligenschein verloren. Die Bundeskanzlerin stand seit Sommer 2015 für die personifizierte Nächstenliebe. Die Kehrtwende kam vor einer Woche, als sich Merkel für den Autokraten Erdogan von der Armenien-Resolution des Bundestages distanzierte. Damit entpuppte sich die Kanzlerin als Realpolitikerin, die um jeden Preis zuvorderst das Flüchtlingsproblem zukleistern will. Also ist die Kanzlerin auch nur – wie Gabriel und Steinmeier – eine Appeasement-Politikerin, die scheinbar eherne Prinzipien bei Bedarf beerdigt. Die letzte Gewissheit, dass es keine Gewissheiten mehr gibt, dass im Zweifel alles relativierbar ist – das ist der Sündenfall ihrer Kanzlerschaft.
Zahlen für den Brexit
Aufmerken lässt der Beitrag „Zahlen für den Brexit“ von Peter Müller, Christian Reiermann und Christoph Schult. Hinter den Kulissen jonglieren EU-Kommission, Ratssekretariat und Berliner Finanzministerium mit Zahlen über die Auswirkungen des Brexits auf die Haushalte. Je nach Szenario könnte der Austritt der Briten ein Loch von zehn Milliarden Euro in die EU-Kassen reißen. Deutschland als größter Nettozahler würde zusätzlich in die Pflicht genommen. Vor allem könnte es dazu führen, dass das fragile Konstrukt von Beitragszahlungen und Rabatten ins Rutschen kommt. Auch über Subventionen und Förderprogramme wird neu verhandelt werden müssen.
Sven Becker und Sven Röbel schildern in „Die Swiss-Connection der AfD“, wie die Partei über die schweizerische PR-Agentur Goal AG von anonymen Gönnern im Wahlkampf unterstützt wird. Interessant zu wissen, aber in der Substanz noch recht dünn.
„Gestrandet“ sind die Piraten nach Britta Stuff. Wir lesen über Aufstieg und Untergang einer Partei, deren ehemalige Galionsfiguren bis heute nicht sagen können, was sie politisch eigentlich bewirken wollten. Gut, dass uns diese Dilettanten wohl zukünftig erspart bleiben.
Die gute Nachricht: Die Menschen werden alle zehn Jahre drei IQ-Punkte klüger. Das berichtet Guido Mingels in der Rubrik „Früher war alles schlechter“. Untersucht worden sind 219 Studenten aus 31 Staaten. Wie das bei Statistiken so ist, resultiert das Ergebnis aus Über- und Unterperformern. Ich frage mich gerade, wie diese Größen bei Bundeskanzler, Ministern und Abgeordneten verteilt sind. Und noch ein Gedanke lässt mir keine Ruhe: Vor 50 Jahren hatten demnach auch Politiker 15 IQ-Punkte weniger als heute …
Zum Schluss begeben wir uns mit Juan Moreno auf eine nostalgische Reise in eine Zeit, als wir selbst noch unbeschwert im Sommer mit dem Interrail-Ticket kreuz und quer durch Europa reisten. „Schöne Grüße aus Europa“ ist eine feine Reportage gegen die Europamüdigkeit, nicht zuletzt auch all derjenigen, die sich heute nicht mehr an Ihre damaligen Erlebnisse von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in stickigen Zugabteilen, auf zugigen Bahnhöfen, in den Vielbettzimmern von Jugendherbergen und auf den Treppenstufen und Mäuerchen der zentralen Plätze erinnern wollen.
Es gibt sie noch, diese Lust auf Europa.