Dreieinhalb Stunden dauerte das Gespräch – länger als geplant. Ein Geplänkel vorab verdeutlicht die Entfremdung zwischen den Teilnehmern. Als Vizepräsident unter Barack Obama stand Joe Biden im regen Kontakt mit Xi Jinping, der damals Vizepräsident der Volksrepublik war. Biden macht keinen Hehl daraus, dass er das heutige chinesische Staatsoberhaupt besser kennt als jeder andere Regierungschef. Die Frage, ob Biden deswegen einen „alten Freund“ treffen würde, verneinte seine allgegenwärtige Pressesprecherin Jen Psaki. Doch bei der Begrüßung Bidens durch den chinesischen Kollegen nannte Xi ihn genau so: einen alten Freund. Es erinnert an lang vergangene Bekanntschaften, die man nach Jahren wiedertrifft, während man weiß, dass der eine nicht mehr die Ansichten von damals teilt. Wie bei einer ersten Begegnung muss man das Terrain neu austarieren. China und die USA haben sich gewandelt; das schließt ihren Einfluss, ihr Selbstbewusstsein und ihr Verhältnis zueinander ein.
Die weichen Töne haben ihre Notwendigkeit. Das Verhältnis zwischen den Weltmächten war seit der Aufnahme der Beziehungen im Jahr 1979 noch nie so angespannt. Niemand hatte vor der Videokonferenz mit Vereinbarungen oder gar einem „großen Wurf“ gerechnet. Bereits die Beschwörung des Friedens kann mittlerweile als Erfolg verbucht werden. Ein Pentagonbericht über die chinesische Militär- und Sicherheitspolitik hatte Anfang November vor dem Ausbau des Marinepotenzials und des Nukleararsenals der Volksrepublik gewarnt. Bis 2030 könnte China demnach rund 1.000 Atomsprengköpfe aufbauen – mehr, als das Pentagon im Vorjahresbericht prognostizierte. Der Ausbau von Streitkräften zu Wasser und zu Luft sichere zudem Chinas wachsendes Potenzial als global agierende Supermacht, die bereits jetzt über die indo-pazifische Region hinausstrahle.
Ein prinzipieller Streitpunkt ist genau jenes Thema, das angeblich der Versöhnung dient: nämlich der status quo. Beide Länder beharren darauf, dass die Beibehaltung des status quo gleichbedeutend mit Frieden und Kooperation sei. Das Problem bildet jedoch eine jeweils andere Definition des status quo. Für die USA bedeutet er die Unabhängigkeit Taiwans, die Beibehaltung des westlichen Systems in Hongkong, die Zurechtweisung Chinas in seine direkte geopolitische Sphäre, kurz: die Beibehaltung der US-Hegemonie in Ostasien. Für China bedeutet jedoch derselbe ausgesprochene status quo die Nichteinmischung in seine eigenen Angelegenheiten, worunter auch Taiwan fällt, das nach eigener Darstellung zur Volksrepublik gehört. Für Peking ist die „Förderung“ einer taiwanesischen Unabhängigkeit die Störung der Harmonie, wie überhaupt die Verteidigung liberaler und demokratischer Werte gegen den status quo gerichtet sind – aus US-Sicht tun die Amerikaner dagegen das, was sie seit Jahrhunderten tun.
Die „Global Times“ bieten auch einen Schlüssel zur Interpretation des Treffens aus der Sicht der Kommunistischen Partei. Offensichtlich hatte man sich mehr erwartet – insbesondere in Handelsfragen. „Die USA müssen ihre toxische Handelspolitik jetzt mehr denn je ändern“, titelt das Blatt. Heißt: runter mit den Zöllen und fort mit dem Protektionismus, der den amerikanischen Markt vor dem chinesischen schützt. Die Abschottung der amerikanischen Wirtschaft wird von China als Affront aufgefasst, als Misstrauen gegenüber den Absichten Pekings und natürlich des freien Wettbewerbs als solchem, den die USA sonst weltweit propagieren. Diese Strategie belastet die Volksrepublik offensichtlich sehr. Mit drohendem Zeigefinger wird deshalb auf den Abschluss des Treffens hingewiesen: „China und die USA stehen nun an einem entscheidenden Scheideweg: Stehen sie auf einem neuen Kalten Krieg oder beginnt eine neue Ära der Großmächtebeziehungen? Durch diesen Videogipfel erklärten die beiden Staatschefs, dass sie einen neuen Kalten Krieg ablehnen. Wir hoffen, dass dies eine strategische Erklärung ist, und wer auch immer dagegen verstößt, ist ein Sünder.“
Doch für eine Durchsetzung einer solchen Politik braucht es auch eine richtige Führung. Xi wurde kurz vor dem Gespräch auf eine Stufe mit dem großen „Steuermann“ Mao Zedong gestellt. Xi hat keine Amtszeitbegrenzung und hat seine Herrschaft stärker denn je fundamentiert. Er wird auch noch Bidens Nachfolger gegenüberstehen. Der US-Präsident dagegen ist bereits nach einem Jahr im eigenen Land angezählt und hat traditionelle Hochburgen seiner Partei verloren, während er den außenpolitischen Herausforderungen kaum gewachsen scheint. Eine Trump-Politik kann man nur mit einem Donald Trump betreiben. Während Xi mittlerweile zum Herrscher der Volksrepublik aufgestiegen ist, ist Biden vom Format immer noch Vizepräsident geblieben. Initiativen in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen werden in der nahen Zukunft im Zeichen des Drachen stehen – ob positiv oder negativ.