Die Corona-Inzidenz steigt in Deutschland auf über 300 und erreicht damit erneut einen Rekordwert. Es zeigt sich eine ganz ähnliche Entwicklung wie in vielen anderen europäischen Ländern, die bereits mit einer Corona-Welle durch die Delta-Variante zu tun hatten. Hier exemplarisch ein Vergleich zum Vereinigten Königreich:
In Großbritannien liegen die Inzidenzen schon seit Monaten über dem Niveau von Deutschland heute. Dennoch gilt dort seit dem 19. Juli der Freedom Day. Unbedingt bereuen müssen die Briten ihre Freiheit trotz der hohen Inzidenzen nicht. Die Zahl der Toten ist dort weiterhin auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau. Auch in Deutschland sind bisher im Vergleich deutlich weniger Tote als in den vorangegangenen Wellen zu beklagen:
Bei den Toten in Deutschland zeigen sich zwei Effekte: Einerseits nimmt der Anteil der Corona-Toten über 80 Jahre im Vergleich zur letzten Welle wieder deutlich zu und macht jetzt wieder weit über 50 Prozent aus. Andererseits nehmen auch die Zahlen des Impfversagens weiter zu: Über 40 Prozent der Corona-Toten der letzten Wochen über 60 Jahre waren geimpft. Beide Effekte dürften zusammenhängen und zeigen: Wie im letzten Winter auch muss der Fokus wieder darauf liegen, die hochvulnerablen Gruppen zu schützen, die durch den rapide abnehmenden Impfschutz wieder deutlich stärker gefährdet sind. Schutzkonzepte insbesondere für Altersheime sind wie im letzten Jahr der entscheidende Schritt.
Immer weiter in die falsche Richtung
Insgesamt zeigt der Vergleich von Infektions- und Todeszahlen aber vor allem: Hohe Inzidenzen führen eben nicht automatisch auch zu hohen Todeszahlen. Das galt eigentlich bereits als Konsens im vergangenen Sommer, als die Bundesregierung die reine Orientierung am Inzidenzwert über Bord warf.
Stattdessen führte man die Hospitalisierungsinzidenz als neue Messgröße ein. Doch von der hört man jetzt wenig – Politik und Medien berufen sich wieder auf die eigentlich längst überholte Zahl der Neuinfektionen. Die Hospitalisierungsinzidenz sieht aktuell so aus:
Diese ist seit einigen Wochen rückläufig. Aber Vorsicht: Durch „Übermittlungsverzug“ können die Werte der letzten zwei Wochen (!) deutlich unterschätzt werden, schreibt das RKI dazu. Und tatsächlich: Ruft man die Statistik von Woche zu Woche erneut auf, stellt man fest, dass die neuesten zwei ausgewiesenen Wochen der Statistik immer sinkende Zahlen zeigen – eine Woche später werden die inzwischen drei Wochen alten Daten dann langsam nachträglich nach oben korrigiert. Der Höchstpunkt der Kurve ist nach der Statistik also immer heute vor zwei Wochen – egal an welchem Tag. Die Erklärung ist wie so oft bei Statistiken des RKI: ein unerklärlicher Meldeverzug.
Auf Deutsch: Die gegenwärtige Zahl der Corona-Hospitalisierungen, an die die Corona-Politik angeblich geknüpft wurde, kennen wir nicht, nicht mal im Ansatz. Ob sie steigt, sinkt oder stagniert: Es gibt keine Information.
Im Ergebnis zeigt sich: Auch im zweiten Corona-Herbst, nach über anderthalb Jahren Pandemie hat Deutschland immer noch keinen Indikator für die Gefährlichkeit der Situation. Stattdessen weist man täglich weiterhin auf die Inzidenz hin. Dabei sagt die Zahl der Infektionen gerade in Zeit von augenscheinlich harmloserer Delta-Veriante und 80 Prozent Impfquote wenig über die Zahl und Schwere der tatsächlichen Corona-Erkrankungen aus. Und ohnehin: Ein Großteil der Infektionen bleibt unerkannt. Die Inzidenz-Meldungen sind nicht nur unvollständig, da sich Geimpfte nur noch selten testen lassen müssen, sondern auch von der Testpolitik abhängig.
Kommenden Donnerstag findet in Deutschland der Corona-Gipfel von Kanzlerin und Länder-Regierungschefs statt. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass ein Bund-Länder-Gipfel (der längst ersetzt werden sollte) unter der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Merkel einen Lockdown (dessen Wirksamkeit mindestens umstritten ist) verhängt, auf Basis allein des Inzidenzwerts (der als Indikator längst als überholt galt).