Alternativlosigkeit, wohin man schaut. Die Kanzlerin ist nur noch geschäftsführend, ihr Erbe jedoch präsenter denn je. Strategisches Denken ist zur Mangelware in den leeren Regalen deutschen Intellekts geworden. Nach Jahren des eingeengten Diskurses und zielgerichteter Kultivierung des Scheuklappendenkens sollen Krisen offenbar nur nach bewährtem Muster bewältigt werden. Diese Mentalität zeigte sich symptomatisch in der Griechenlandkrise 2010, dann in der Wende von Fukushima 2011, schließlich in der „Flüchtlingskrise“ 2015 und aktuell in der Corona-Krise. Sie alle zeichnen sich durch eine Verwaltung, statt Behebung der Krise aus; sie alle verbindet ein vermeintlicher Königsweg, der von einer fragwürdigen Aneinanderreihung von Paradoxa gekennzeichnet ist: die Schuldenkrise Griechenlands hat die Europäische Union mit einer Schuldenkrise Europas beantwortet, eine vermeintlich unsichere Energiequelle wurde durch die Aufgabe von Energiesicherheit abgewiegelt, und 2015 zeigte sich laut Merkel zwar „Deutschland von seiner allerbesten Seite“, aber was in den Medien zum „Sommermärchen“ verkitscht wurde, soll sich nicht wiederholen.
Zugleich sehen sich die Vorkämpfer von Demokratie und linksliberalen Werten zum ersten Mal in einem Gefecht, in dem strategische Interessen und moralische Ansprüche offener denn je kollidieren. Ähnlich wie 2015 offenbart sich die historische Amnesie des Abendlandes. Diesem verlorenen Kulturgedächtnis gehörte auch das verinnerlichte Wissen um das menschliche Dilemma an. Die französische Philosophin Chantal Delsol bezeichnete die Immigrationsfrage im Sammelband Renovatio Europae als „eminent tragisch“, da der Konflikt von Politik und Moral unlösbar sei und es eine tatsächliche „Lösung“ nicht geben kann. Die Gegenwart habe sich einer „moralischen Zügellosigkeit“ hingegeben, die eine solche Tragik nicht mehr erkennen will. Die Realität der Polaritäten wird nicht mehr akzeptiert.
Die abendländische Literatur hat diese Qual zwischen gleichermaßen hohen Werten, die sich „buchstäblich gegenseitig töten“ immer wieder aufgegriffen. Dieses antike und mittelalterliche Denken hat die Moderne mit einem Menschen, der sein eigener Herr ist und über die Welt triumphiert, abgelöst. Nicht die Tragödie, sondern das Drama eines Helden in schwierigen Umständen, der sich durchsetzt, prägt die Erzählung unserer Zeit. Die Antigone, die zwischen menschlichem und göttlichem Gesetz wählen muss und mit dem Leben bezahlt, hat der weise Nathan ersetzt, der für alle Weltreligionen eine passende Lösung bietet, bei der sich Kreuzritter und Sultan in die Arme fallen.
Es mutet tragikomisch an, dass Restle selbst davon spricht, es gebe „viele Möglichkeiten“, aber an der Grenze letztlich doch nur die Möglichkeit der Aufnahme besteht. Die Erwägung, dass Weißrussland die selbst importierten Migranten auch wieder selbstständig loswerden oder unterbringen sollte, kommt nicht in Betracht. Die eigentliche Schwäche, die erpressbar macht, wird nicht als Schwäche, sondern als Stärke diagnostiziert, indem die Realität zurechtgebogen wird. Die Destabilisierung Europas als eigentliches Ziel des Trios wird gar nicht mehr als Bedrohung realisiert. Wenn man sich nur an den Gedanken gewöhnt, dass die Destabilisierung keine Bedrohung mehr ist, verliert auch die Erpressung an Gewicht, so die verquere Logik.
Die politische Frage nach der Stabilität Europas wird moralisch umgekehrt: Plötzlich ist es eine gefühlte „moralische“ Destabilisierung, die den Kontinent bedroht. Bevor man an der Grenze schießt und eine solche Erpressung zulässt, schwingt man die weiße Flagge, denn: Unsere Werte sind wichtiger. Diese Ironie zeigt sich auch an der Aussage des Migrationsforschers Gerald Knaus, Polen betreibe an der EU-Außengrenze eine „AfD-Politik“. Es ist derselbe Knaus, der als Architekt des Türkei-Deals gilt. Also doch: Im Zweifel lassen wir uns von Diktatoren erpressen. Das ist jedenfalls besser, als sich endlich der Wirklichkeit zu stellen, dass Entscheidungen nicht allein moralisch beantwortet werden können, sondern in unzähligen Schattierungen von Grau daherkommen, und letztlich jede Entscheidung eine Abwägung mehrerer Übel ist.
Das Paradebeispiel für diese strategische Kapitulation ist ein Auftritt von Carlo Masala im ZDF. Der Professor von der Bundeswehr-Universität in München konstatiert richtigerweise den Erpressungsversuch und die Destabilisierung Europas als Ziel. Ebenfalls richtig spricht Masala von der „Entlarvung einer möglichen moralischen Doppelbödigkeit der Europäischen Union“, die Lukaschenko betreibe.
Doch wie sehen die Lösungsvorschläge Masalas aus? Obwohl er nur wenige Sätze zuvor die Lage richtig diagnostiziert hat, rät auch er dazu: Aufnahme von Kontingenten. Auch Masala gibt der Destabilisierung statt. Auf Polen müsse Druck ausgeübt werden, damit dieses seine harte Linie aufgebe. „Schmutzige Bilder“ an den Grenzen dürfe es nicht geben. Das erinnert frappierend an die Worte Angela Merkels. Auch sie handelte 2015 nicht aus humanitären – oder wie Herfried Münkler behauptete: aus strategischen Gründen zur Stabilisierung des Balkans –, sondern aus vermeintlich moralischen Gründen, die aber in Wirklichkeit eine verantwortungslose Verschiebung der Problemlage auf andere Schultern bedeutete.
Auch die Idee der Kontingente ist reine Utopie, denn gerade die osteuropäischen Staaten schließen ihre Grenzen nicht, damit sie anschließend doch mit Migranten beglückt werden. Die Kontingentfrage wird also die Destabilisierung der EU eher vertiefen, statt zu beheben. Die Blauäugigkeit wird nur noch von Masalas Aussage getoppt, es seien „nur 3.000 bis 5.000“ Migranten, das sei „keine große Masse“ – so, als hätte man sämtliche Erkenntnisse aus dem Dammbruch von 2015 vergessen. Eine solche Lösung wird nicht nur Zehntausende Migranten in ihrem Treck bestätigen, sondern auch die Regierungen in Minsk, Moskau und Ankara in ihrer Politik. Masala verkauft die Opferung Europas als Strategie zur Rettung Europas.
Cicero hat zum Konflikt zwischen Moral und Politik einen aufschlussreichen Text geschrieben, den auch Augustinus rezipiert hat. Delsol erwähnt ihn in ihrer Abhandlung. Demnach ist das Individuum sterblich, die Gesellschaft unsterblich. Das Individuum kann sich für das Gute aufopfern, sogar dafür sterben. Die Gesellschaft hat kein Recht darauf. „Sie ist gewissermaßen verantwortlich für ihre Unsterblichkeit. Sie muss das Fortdauern der gesamten kulturellen Welt sichern, die ihr anvertraut ist“, sagt Delsol. Es ist dabei nicht gemeint, die bloße Dauer einer Gesellschaft zum einzigen und höchsten Lebenszweck zu erheben. Aber es kann genauso wenig Zweck sein, dass eine Gesellschaft sich in das andere Extrem moralischer Zügellosigkeit und Selbstaufopferung verliert.
Die Erpressbarkeit Europas liegt nicht in der Angst vor Migranten oder Destabilisierung begründet. Sondern in der Angst, politische Optionen nicht nur unter dem Aspekt von Menschlichkeit, sondern auch unter dem der Staatsraison zu betrachten. Deutschlands Migrationspolitik ist eine Katastrophe für Europa. Sie ist verantwortlich für die Bilder auf dem Balkan, in Lampedusa, am Evros und nun in Osteuropa. Sich dieser Verantwortung bewusst zu werden und die Migration zu verhindern, bevor sie entsteht, statt sie alternativlos zu begrüßen und den Schneeballeffekt voranzutreiben, gehört zur Quintessenz der europäischen Überlebensstrategie. Dazu muss man nicht einmal schlimme Bilder an den Grenzen provozieren. Sondern Deutschland muss als eigentlicher Auslöser des Sturms deutlich machen, dass seine moralischen Extreme ein verheerender Irrtum sind, der das ganze Abendland – und heute namentlich Polen – in Geiselhaft nimmt. Polnische Soldaten sind gezwungen zu schießen, weil Deutschland aus seiner Weltbeglückungshaltung nicht heraus will. Auch das ist eine Form von Erpressung – aus moralischem Heldentum.