Mit einer seltsamen Einlassung würdigte Judith Butler, Verfasserin des Gender-Klassikers „Das Unbehagen der Geschlechter”, den Budapester Aufstand von 1956. Sie brandmarkte darin jeden, der den „Genderismus” hinterfragt, als Faschisten und das jetzige Ungarn als nahezu totalitäres, misogynes, homo- und transphobes Regime. Just am 23. Oktober, als nicht nur wir Ungarn, sondern die ganze Welt des opferbereiten Widerstandes gegen die mächtigste Diktatur ihrer Zeit gedachte, rief Butler in einem Artikel im britischen Guardian unter dem LGBTQ-Regenbogenbanner zum Kampf gegen alle, die die Welt anders sehen als sie, die progressive feministische Philosophin. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, wie der Kampf um Liebe und Annahme der Unterdrückten – sprich Frauen und LGBTQ-Personen – mit zunehmend härteren Bandagen und Radikalität geführt wird: Unterschiedslos gelten ihr Christen, Muslime, orthodoxe Juden und Konservative als faschistoid.
Ironisch auch, wie sie im selben Artikel moniert, dass diese „Autoritären” den „Genderismus” immer häufiger mit dem Kommunismus vergleichen. Dabei ist es offensichtlich und wissenschaftlich hinreichend ausgeleuchtet, wie eng die konstruktivistischen Gender-Theorien ideell mit dem linken Feminismus und dem Marxismus verwoben sind. Auch machen ihre Vordenker keinen Hehl aus ihrer Begeisterung für den dialektischen Materialismus à la Marx und Engels, wie er im Westen über die sogenannte Kritische Theorie in das 21. Jahrhundert weitergereicht wurde. Wie die Autoren des Kommunistischen Manifests haben auch sie sich die Überwindung der patriarchalen Gesellschaft, das Überschreiben der monogamen Ehe und die Schaffung einer freien, entgrenzten Sexkultur auf die Fahne geschrieben. Denn nur durch die Schwächung der Kernfamilie als der „Werkstätte” der Unterdrückung sei gesellschaftliche Gleichheit zu erringen.
„Die Befreiung der Frau hat zur ersten Vorbedingung die Wiedereinführung des ganzen weiblichen Geschlechts in die öffentliche Industrie, und dies wieder erfordert die Beseitigung der Eigenschaft der Einzelfamilie als wirtschaftlicher Einheit der Gesellschaft“, schreibt Friedrich Engels in „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“.
Dem Betrachter aus Ungarn fallen einige Parallelen zwischen dem Kommunismus und dem Genderismus in den „glücklicheren Gegenden” des „fortschrittlichen Westens” ins Auge. Und wenn Judith Butler die Ungarn an ihrem Feiertag dafür rügt, dass sie die von ihr vorangetriebene „Bewegung” mit jenem Regime vergleichen, das zwar mit dem Anspruch antrat, die Not der Welt zu lindern, stattdessen aber stets und überall unermessliches Leiden verursachte, dann möchten wir auch ihren rhetorischen Fragen Rede und Antwort stehen.
Neusprech
Der Kommunismus verstand es meisterhaft, die Wirklichkeit verbal zu verzerren. Als man etwa die „klassenfremden“ Bauern enteignete und ihre Kornspeicher leerfegte, unterstellte man ihnen, Kulaken zu sein, Volksfeinde, Unterdrücker, die es nicht besser verdienten. Unzählige Zivilisten, Großeltern und Urgroßeltern unserer Generation, wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen deportiert und schufteten jahrelang, viele bis zum Tode in der Zwangsarbeit, während es öffentlich hieß, der „Malenkij Arbeitsdienst” wäre freiwillig und vorübergehend. Apropos 1956: Der Freiheitskampf, für den viele ihre Existenz, ihr Leben einsetzten, mutierte im Sprachgebrauch der Genossen zur „Konter-Revolution“. „Worüber wir nicht reden, existiert nicht” – auf diese Weise beseitigte das sozialistische Ungarn erfolgreich Arbeitslosigkeit, Armut und die epidemische Suizidalität; die Faktenlage war irrelevant. „Der größte Wert ist der Mensch” – diesen Kommunistenslogan brummte mein Großvater unterm Schnauzbart, wenn wieder jemand aus seinem Umfeld verhaftet wurde.
Die Hinterfragung der Wirklichkeit
Sie haben die Wirklichkeit auf ihre Weise gesehen, am eigenen Leib erfahren – das haben sie dann mit dem Narrativ der Partei in Zeitung und Rundfunk abgeglichen. Und die Mehrheit, die leise Mehrheit, zog für sich mit gesenkter Stimme die Schlussfolgerung: Sie lügen. Die Wahrheit lässt sich nicht mit Gewalt bezwingen, dem Hungernden nicht vorgaukeln, dass er satt ist. Natürlich kann man behaupten, am „kommunistischen Samstag” wären alle freiwillig und fröhlich singend zum Feld- und Fabrikdienst gezogen, aber wer dabei war, wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Meine zart gebaute Großmutter empfand es nicht als „Befreiung von der Männerherrschaft“, als sie schwere Steine schleppen und Beton schaufeln musste, oder nach dem Wochenbett gleich wieder arbeiten „durfte”, um sich in den Pausen heimlich nach Hause zu stehlen und ihr Kind zu stillen. Was für eine Gleichstellung der Frau!
Du siehst einen Mann in einem Männerkörper mit männlichen Genitalen, der sich als Frau bezeichnet. Wahlweise als sechsjähriges Mädchen. In dir erhebt sich Widerspruch: Nein, du bist kein sechsjähriges Mädchen, du bist ein Mann mittleren Alters, der Frau und sieben Kinder verlassen hat, um ein „neues Leben zu beginnen”. Lebst du in Kanada, wirst du dir gut überlegen, was du sagst oder twitterst. „Eine Transfrau ist ebenso Frau wie eine als Frau geborene”. „Auch Männer können gebären!” Klingt bizarr, wird aber vom radikalen Hardcore, der auch Abweichler als Feinde attackiert, vollmundig als Wahrheit proklamiert. Eine Geschlechtsidentität, die allein auf Selbstdefinition beruht, irritiert permanent unser Empfinden für Wirklichkeit.
Selbstzensur und Gedankenfreiheit
Die Generation unserer Eltern folgte der Logik einer Art doppelten Buchführung. Wer kein fanatischer Kommunist war, war sich darüber im Klaren, dass in der Schule Lügen gelehrt wurden. Dass man öffentlich anders redete als zuhause und darauf achtete, vor wem man was aussprach. Die Selbstzensur war so allgegenwärtig wie die Denunzianten, man konnte sich nie ganz sicher fühlen.
Selbstzensur – wie mag es Menschen überm großen Teich gehen, die fein abwägen müssen, was sie zu bestimmten „sensiblen” Themen äußern? Wo Eltern ihre Kinder reihenweise aus den Schulen nehmen, weil der Unterricht bereits im Zeichen der Gender-Sensibilisierung erfolgt? Wenn Heimunterricht nicht möglich ist, müssen sie es machen, wie unsere Großeltern im Kommunismus: ihre Söhne und Töchter gegen Behauptungen immunisieren, die dem, was sie selbst für wahr und richtig halten, widersprechen. Dabei geht es der Mehrheit nicht darum, irgendwem die Toleranz zu verweigern: Sie möchten ihre Kinder schlicht vor einer Neudefinition sexueller Normen schützen, die sie nicht mittragen können, die am gesellschaftlichen Konsens vorbei erzwungen wurde und deren wissenschaftliche Grundlegung mehr als fraglich ist. Bürger werden auch heute vor Gericht gezerrt – für „Kapitalverbrechen“ wie die Verwendung eines falsch gegenderten Pronomens. Auch heute verlieren sie ihren Arbeitsplatz, werden verleumdet und schikaniert für eine abweichende Meinung. Nein, nicht bei uns im „faschistischen” Ungarn, sondern in Ländern der „freien Welt”.
“Der sozialistische Mensch” und die Christen
Die Kommunisten träumten vom neuen Menschen. Von neuer Ethik und neuen Normen. Alles, was an früher erinnerte, galt ihnen als gefährlich und war verfemt. Christen wurden offen verfolgt, Priester in den Gulag oder in Arbeitslager im Landesinnern verschleppt. Viele sind in Schauprozessen verurteilt worden, wie etwas Kardinal Josef Mindszenty, und nicht wenige hat man sogar hingerichtet. Noch in der späten Kádár-Ära konnte man seinen Glauben nur diskret pflegen. Woher diese Angst des Regimes vor der Religion? Es war das christliche Menschenbild, das dem sozialistischen entgegenstand. Der christliche Glaube gründet in der Heilige Schrift und in einer Tradition, die sich von Generation zu Generation erneuert und viele Reiche und Epochen überdauert hat; sowas lässt sich weder durch marxistische Thesen noch durch andere trendige Ideologien ersetzen.
Du bist nie progressiv genug
Im Kommunismus konnte man nicht progressiv genug sein. Wer gestern noch als Held gefeiert wurde, mochte sich morgen schon im Gefängnis wiederfinden – wenn er Glück hatte. Die Ideologie ließ Kritik, auch interne Kritik, nicht zu. Der Kommunismus war unhinterfragbar. Wie mag sich heute eine Margaret Atwood, eine J.K. Rowling vorkommen, wenn sie von vormaligen Mitkämpferinnen als TERF (Trans-ausschließende radikal-Feministin) stigmatisiert wird? Die LGBTQ-Revolution frisst auf ihrem Marsch durch die Institutionen ihre eigenen Kinder. So forderte etwa die Transgender-Publizistin Elinor Burkett unter dem Motto „Was macht eine Frau zur Frau” in der New York Times (2015): „Nicht nur Frauen haben ein Recht auf Abtreibung und Reproduktionsmedizin, sondern alle Personen mit einem Uterus.” – Du musst denken, wie wir denken! Sonst bist du transphob. Wie Blaire White, der als transgender Influencer noch die Ansicht vertritt, Geschlechtsidentität sei per se binär – männlich oder weiblich; oder wie die Feministin Arielle Scarcella, die es als Lesbe wagt, Transfrauen mit männlichen Genitalien sexuell nicht erregend zu finden.
Kritik und Humor
Was am radikal konstruktivistischen Konzept des Genderismus irritiert? Dass man es nicht kritisieren darf. Dass es inkonsistent ist, dass seine Behauptungen wissenschaftlich nicht zu greifen sind. Dass es von den philosophischen Denklabors ausgehend sämtliche Lebensbereiche durchwuchert und Bildung, Forschung und Gesetzgebung dominiert. Die gender-kritische Annahme, Geschlechtsidentität sei biologisch nicht eindeutig vorgegeben, mag sinnvoll, interessant und notwendig sein, sie ist aber keine erwiesene Tatsache. Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, welche Rolle dabei jeweils biologische Marker und welche soziale Umweltfaktoren spielen oder in welcher Wechselwirkung sie stehen. Unterschiedliche Thesen, Vorstellungen und empirische Daten bestätigen oder widersprechen einander, die Fragen lassen sich nicht abschließend beantworten. Statt Verlautbarungen und unhinterfragten Glaubenssätzen braucht es den offenen, unvoreingenommenen Diskurs, der sich dem Phänomen von verschiedenen Seiten nähert, um es möglichst verlässlich beschreiben und deuten zu können.
Wenn wir schon Parallelen zwischen der sozialistischen und der Gender-Revolution gezogen haben, sei zuletzt noch auf einen Unterschied hingewiesen: Sogar im Kommunismus waren Witze erlaubt. Freilich nur dezente, einigermaßen zensierte Witze, aber immerhin. Warum nur darf es in Genderangelegenheiten keine geben?
Anna Molnár ist Psychologin, Mutter und freie Autorin. Ihr Beitrag erschien zuerst im ungarischen Nachrichtenmagazin Hetek und in Englisch im Hungarian Conservative. Seit 2020 gehört die Autorin zum Autorenteam des Arbeitskreises Wertezentrierter Psychologen in Ungarn, zu dem theoretische und klinische Psychologen unterschiedlicher weltanschaulicher Provenienz zählen, die sich über Leitfragen ihrer Disziplin in der Zusammenschau der Ethikdiskurse in benachbarten humanen und empirischen Wissenschaften, in Kunst, Philosophie und politischer Öffentlichkeit im eigenen Land und darüber hinaus verständigen möchten.
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