Wer herausfinden will, wo der Überzeugungskern von Jens Weidmann liegt, muss nicht lange graben: Er brachte und bringt ihn selbst auf eine Formel, wenn er sagt: „Ich bin ein konservativer Notenbanker.“ Also ein Fachmann, der mit dem geldpolitischen Besteck umgeht: Zins, Geldmenge, Währungsstabilität, und der sich nicht als Gehilfe von Regierungen und Finanzministern versteht, die in der Eurozone mehrheitlich eine Geldpolitik fordern, die ihnen das Geschäft erleichtert. Weidmann kam aus dem politischen, sogar dem hochpolitischen Bereich, als er 2011 mit erst 43 Jahren das Amt des Bundesbankpräsidenten antrat: Er diente Merkel ab 2009 als Chefunterhändler der G-8-Runden, als sogenannter Sherpa. Als sie ihn zum Nachfolger von Axel Weber machte (der damals ausscheiden musste, weil er nicht an die EZB-Spitze wechseln wollte), glaubten viele, der neue junge Präsident würde als verlängerter Arm der Kanzlerin in Frankfurt regieren. Sie täuschten sich. Weidmann demonstrierte schon mit seinen ersten geldpolitischen Kommentaren 2011 seine Unabhängigkeit. Die speiste sich auch daraus, dass er keiner Partei angehörte – ein seltener, geradezu exotischer Fall für den Inhaber einer Spitzenposition in Deutschland.
Als Frankreich und Italien zur Exportförderung ihrer schwächelnden Wirtschaft verlangten, den Euro gezielt abzuwerten, entgegnete Weidmann: „Eine starke Wirtschaft kann auch eine starke Währung vertragen.“ Und als die Griechen sich in einem Referendum 2011 mit deutlicher Mehrheit gegen die Reformvorgaben im Tausch für weitere Hilfen des Euro-Systems aussprachen, plädierte Weidmann für einen Austritt des Landes aus der Euro-Zone; er stützte damit den Kurs von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Bekanntlich entschied sich Angela Merkel zusammen mit Frankreichs Präsident François Hollande anders.
Als Einziger im EZB-Rat stimmte Weidmann 2021 gegen das von Draghi vorgeschlagene unbegrenzte Anleihenkaufprogramm, das den Euro um jeden Preis retten sollte. Die Geldflut, argumentierte er, werde sich früher oder später ihren Weg suchen und zu einer Inflation führen. Dafür musste sich der Ökonom vor allem in der angelsächsischen Wirtschaftspresse, aber auch in italienischen und deutschen Medien verspotten lassen als starrer Prinzipienreiter, deutscher Oberlehrer, als unmoderner Geldpolitiker, als reiner Tor in der Tafelrunde. Wo, hieß es in den Leitartikeln, bleibe denn die von ihm beschworene Inflation?
So wirkungslos, wie viele glaubten, war sein geldpolitischer Stoizismus allerdings nicht. Im EZB-Rat gab und gibt es immer ein Spektrum von Meinungen. An einen Ende der Skala wünschten sich manche Notenbankgouverneure noch mehr Lockerheit und eine gar nicht mehr verdeckte, sondern am besten offene Staatsfinanzierung durch die EZB. Ihnen stand Weidmann gewissermaßen als Prellbock gegenüber. Ohne ihn und seine Kollegen aus Österreich, Luxemburg und Finnland wären die Ankaufprogramme noch größer und liefe das Gelddrucken noch schneller. Viel mehr konnte der Deutsche nicht, als den Wagen zu bremsen, der seiner Meinung nach in die falsche Richtung rollte. Aber die Tatsache, dass es die wenigen Bremser überhaupt gab, war eben auch nicht gleichgültig.
Im Sommer und Herbst, als Weidmann schon entschieden hatte sich zurückzuziehen, warnte er davor, die Politik der Null- und Minuszinsen trotz nun anziehender und sogar galoppierender Inflation aus Rücksicht auf die hoch verschuldeten Euro-Staaten fortzusetzen. Damit referierte er einfach nur, was eigentlich im Aufgabenheft der EZB steht: Geldwertstabilität, und sonst gar nichts. Natürlich ist die ultralockere Geldpolitik Draghis nicht schuld an den aktuell hohen Gas- und Mikrochip-Preisen, die den Kaufkraftverlust treiben. Aber die Abhängigkeit der Euro-Länder im Süden von der einmal angemischten Droge des billigen Geldes macht es fast unmöglich, den Stoff langsam wieder zu entziehen, also genau das zu tun, was nach konservativer Notenbankpolitik eigentlich nötig wäre.
Ab und zu mischte sich der oberste Bundesbanker sogar in die deutsche Innenpolitik, etwa, als er vor der Rente mit 63 warnte. Seine volkswirtschaftliche Abteilung blieb unter ihm unabhängig, und oft lasen sich ihre Untersuchungen und Schlussfolgerungen interessanter als die Leitartikel vieler Medien. Etwa, wenn die Bundesbank eisern das Bargeld verteidigte und den Mythos widerlegte, eine schärfere staatliche Bargeldkontrolle sei das ideale Mittel gegen Korruption. Oder, als die Ökonomen in dem grauen Frankfurter Betonbau vorrechneten, dass Asylzuwanderung die demographischen Probleme Deutschlands nicht lösen kann. Der frühere Chef der Bank of England, Mervyn King, sagte einmal: „Jens, du bist die Opposition in Deutschland.“
Nach zehn Jahren (übrigens auch die Amtszeit von Mervyn King) fand Weidmann, dass er die Rolle des ewigen Prellbock und Stoikers lange genug gespielt hatte. Er verlässt die Bundesbank Ende 2021, und damit fünfeinhalb Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit. Jetzt, da die Inflation gekommen ist, um zu bleiben, geht er als Prognostiker, der Recht hatte.
Seine beiden wahrscheinlichsten Nachfolgerinnen heißen Claudia Buch, Vizepräsidentin der Bundesbank, und Isabel Schnabel, deutsche Vertreterin im EZB-Rat. Schnabel war neulich dadurch aufgefallen, dass sie erst die Inflation – zuletzt im EU-Schnitt 3,4 und in Deutschland 4,1 Prozent – als vorübergehendes Phänomen heruntergeredet hatte, um dann einzuräumen, sie werde wohl auch 2022 anhalten. Um das zu erkennen, braucht allerdings niemand die Expertise einer EZB-Direktorin.
Den Typus des konservativen Notenbankers und überhaupt diejenigen, die auf Regeln pochen, gibt es immer seltener. Umso wichtiger ist die Feststellung, dass Weidmann nach zehn Jahren alle Fakten auf seiner Seite hat.