In der Innenausschuss-Sondersitzung des Berliner Abgeordnetenhauses gab Innensenator Andreas Geisel (SPD) eine beiläufige Erklärung ab, die große Auswirkungen auf die Wahlanfechtung haben dürfte. Die Regierung, so Geisel, habe laut Gesetz sechs Wochen Zeit, um das offizielle Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl im Amtsblatt zu verkünden. Und diese Zeit, meinte der Politiker, wolle man sich auch nehmen. Das bedeutet: bis zur schriftlichen Bekanntgabe, wieviel Stimmen für wen am 26. September in Berlin abgegeben wurden, können noch mehrere Wochen vergehen. Was so formal klingt, ist allerdings entscheidend für diejenigen, die die Wahl wegen zahlreicher mittlerweile auch eingeräumter Unregelmäßigkeiten und möglicher Manipulationen vor dem Berliner Verfassungsgericht anfechten wollen. Denn eine Anfechtungsklage ist nach Ansicht von Juristen erst nach einer Amtsblattveröffentlichung möglich. Durch das Spiel auf Zeit wäre die für den 4. November 2021 geplante konstituierende Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses nicht zu verhindern – selbst wenn das Gericht feststellen sollte, dass dessen Wahl rechtwidrig stattfand. Es würden also Fakten geschaffen.
Auch die Landeswahlleiterin selbst hatte in dieser Woche angekündigt, sie werde die Gültigkeit der Wahl anfechten. In ihrem Bericht räumte sie gravierende Mängel in 220 der 2245 Berliner Wahllokale ein. In mehreren Lokalen waren Stimmzettel ausgegangen und Wähler wieder weggeschickt worden, in anderen Lokalen wurden Stimmzettel vertauscht, mehrfach konnten auch Minderjährige unberechtigt ihre Stimme zur Abgeordnetenhaus- und zur Bundestagswahl abgeben.
Die Frage, wann die Klagen gegen die Wahl frühestens entschieden werden können, ist nicht nur von formaler Bedeutung. Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth hatte schon darauf hingewiesen, dass nicht jeder Mangel schon eine Wahl ungültig mache. Es sei auch die politische Stabilität abzuwägen, die leide, wenn das neue Parlament seine Arbeit nicht aufnehmen oder nicht wie geplant arbeiten könnte. Es ist gut möglich, dass sich auch die Berliner Verfassungsrichter diese Sicht zu eigen machen und die Gesetzesverstöße der Wahl gegen die Schwierigkeiten aufrechnen, die sich ergeben, wenn das neue Berliner Parlament als illegitim erklärt würde und nur bis zur Wahlwiederholung amtieren könnte. Die Amtszeit der bisherigen Abgeordneten endet automatisch, sobald ein neues Parlament zusammentritt.
Die geplanten Anfechtungen beziehen sich nach jetzigem Stand nur auf die Bezirksverordneten- und Abgeordnetenhauswahl. Für die sehr viel größer zugeschnittenen Bundestagswahlkreise Berlins ist die bisher geschätzte Zahl der Berliner, die um ihr Wahlrecht gebracht wurden, nicht so hoch, dass es für die Direktmandate relevant wäre. Über die Gültigkeit der Bundestagswahl in Berlin entscheidet der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages – und dann gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht.