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Chaoswahl

Wahlwiederholung in Berlin: Regierung trickst, um Klagen zu verzögern

Das Chaos bei den Wahlen in Berlin wird vor Gericht landen. Allerdings spielt Innensenator Andreas Geisel mit einer Formalie auf Zeit. Die Taktik könnte weitreichende Folgen haben.

Der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) kommt zur Sondersitzung vom Innenausschuss zu Wahlpannen im Abgeordnetenhaus.

picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Monika Skolimowska

In der Innenausschuss-Sondersitzung des Berliner Abgeordnetenhauses gab Innensenator Andreas Geisel (SPD) eine beiläufige Erklärung ab, die große Auswirkungen auf die Wahlanfechtung haben dürfte. Die Regierung, so Geisel, habe laut Gesetz sechs Wochen Zeit, um das offizielle Ergebnis der Abgeordnetenhauswahl im Amtsblatt zu verkünden. Und diese Zeit, meinte der Politiker, wolle man sich auch nehmen. Das bedeutet: bis zur schriftlichen Bekanntgabe, wieviel Stimmen für wen am 26. September in Berlin abgegeben wurden, können noch mehrere Wochen vergehen. Was so formal klingt, ist allerdings entscheidend für diejenigen, die die Wahl wegen zahlreicher mittlerweile auch eingeräumter Unregelmäßigkeiten und möglicher Manipulationen vor dem Berliner Verfassungsgericht anfechten wollen. Denn eine Anfechtungsklage ist nach Ansicht von Juristen erst nach einer Amtsblattveröffentlichung möglich. Durch das Spiel auf Zeit wäre die für den 4. November 2021 geplante konstituierende Sitzung des neuen Abgeordnetenhauses nicht zu verhindern – selbst wenn das Gericht feststellen sollte, dass dessen Wahl rechtwidrig stattfand. Es würden also Fakten geschaffen.

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Der Abgeordnete der Freien Wähler Marcel Luthe, der eine Wahlanfechtung plant, forderte Geisel in der Sitzung auf, das Wahlergebnis „unverzüglich“ zu veröffentlichen. „Da die Landeswahlleiterin das amtliche Endergebnis schon am 14. Oktober verkündet hat“, so Luthe zu TE, „gibt es überhaupt keinen Grund, mit seiner Veröffentlichung noch länger zu warten.“ Sollte die Senatsverwaltung seiner Forderung nicht nachkommen, sagte Luthe, werde er rechtliche Schritte unternehmen.

Auch die Landeswahlleiterin selbst hatte in dieser Woche angekündigt, sie werde die Gültigkeit der Wahl anfechten. In ihrem Bericht räumte sie gravierende Mängel in 220 der 2245 Berliner Wahllokale ein. In mehreren Lokalen waren Stimmzettel ausgegangen und Wähler wieder weggeschickt worden, in anderen Lokalen wurden Stimmzettel vertauscht, mehrfach konnten auch Minderjährige unberechtigt ihre Stimme zur Abgeordnetenhaus- und zur Bundestagswahl abgeben.

Die Frage, wann die Klagen gegen die Wahl frühestens entschieden werden können, ist nicht nur von formaler Bedeutung. Bundesverfassungsgerichtspräsident Stephan Harbarth hatte schon darauf hingewiesen, dass nicht jeder Mangel schon eine Wahl ungültig mache. Es sei auch die politische Stabilität abzuwägen, die leide, wenn das neue Parlament seine Arbeit nicht aufnehmen oder nicht wie geplant arbeiten könnte. Es ist gut möglich, dass sich auch die Berliner Verfassungsrichter diese Sicht zu eigen machen und die Gesetzesverstöße der Wahl gegen die Schwierigkeiten aufrechnen, die sich ergeben, wenn das neue Berliner Parlament als illegitim erklärt würde und nur bis zur Wahlwiederholung amtieren könnte. Die Amtszeit der bisherigen Abgeordneten endet automatisch, sobald ein neues Parlament zusammentritt.

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In der Sitzung des Innenausschusses rechnete Luthe vor, dass ein ordnungsgemäßer Ablauf der Wahl in Berlin technisch gar nicht möglich gewesen sei. Die Landeswahlleiterin hatte nach dem 26. September bekanntgegeben, sie und ihre Mitarbeiter hätten pro Wähler mit einer Aufenthaltsdauer in der Stimmkabine von drei Minuten gerechnet – sehr knapp angesichts der Abstimmungen für die Bezirksverordnetenversammlung, das Abgeordnetenhaus, den Bundestag und das Volksbegehren zur Enteignung eines Immobilienunternehmens. Aber schon bei den veranschlagten drei Minuten, insgesamt 2,7 Millionen möglichen Wählern und 10 Stunden Öffnungszeit der Wahllokale, so Luthe, seien pro Lokal sechs Wahlkabinen nötig gewesen. In der Regel seien es aber nur zwei bis drei gewesen. „Unter den Umständen, wie die Wahl geplant wurde“, so Luthe zu TE, „war eine ordnungsgemäße Durchführung mathematisch unmöglich. Das Chaos war vorprogrammiert.“ Neben der überlangen Wartezeit war es dann zusätzlich noch zur unzureichenden oder falschen Belieferung der Lokale mit Stimmzetteln gekommen.

Die geplanten Anfechtungen beziehen sich nach jetzigem Stand nur auf die Bezirksverordneten- und Abgeordnetenhauswahl. Für die sehr viel größer zugeschnittenen Bundestagswahlkreise Berlins ist die bisher geschätzte Zahl der Berliner, die um ihr Wahlrecht gebracht wurden, nicht so hoch, dass es für die Direktmandate relevant wäre. Über die Gültigkeit der Bundestagswahl in Berlin entscheidet der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages – und dann gegebenenfalls das Bundesverfassungsgericht.

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