Politik lebt durch Repräsentation und Symbole. In dieser Hinsicht war die Konstellation auffällig, in der die Parteivertreter auftraten: Dreier-Team-SPD (Scholz, Esken, Walter-Borjans), Grünes Duo (Baerbock, Habeck) und der Libero Christian Lindner. Ein 3:2:1-Verhältnis – ist das ein Ausblick auf das Gewicht der liberalen Kräfte in der vielleicht gar nicht mehr so fernen Regierungszukunft? Das Sondierungspapier, ein Kind der Ménage-à-trois von letzter Nacht, will die in liberalen und konservativen Sphären geäußerte Befürchtung, dass die FDP angesichts der linken Übermacht untergeht, schnell entkräften. „Wir sehen keine kleinen und großen Parteien, sondern gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe“, heißt es in der Einleitung des Papiers.
Das Bündnis sieht sich selbst als „Fortschrittskoalition“ (Baerbock), Scholz zeigte sich überzeugt, einen „ambitionierten und tragfähigen Koalitionsvertrag“ zu schließen, Lindner sieht im Bekenntnis zur Digitalisierung eine deutliche Handschrift der FDP. Die SPD löst ihr Wahlversprechen ein: Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, die Reform von Hartz IV in ein „Bürgergeld“, Sicherung des Rentenniveaus. Alle drei Parteien haben sich auf das Absenken des Wahlalters auf 16 Jahre bei EU- und Bundestagswahlen verständigt. Die Selbstdarstellung: Jeder gibt, jeder nimmt.
Über die Digitalisierungsversprechen inklusive einer schlankeren und effizienteren Verwaltung kann nicht hinwegtäuschen, dass mit der „sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ ein Begriff Einzug in das Sondierungspapier gefunden hat, der zutiefst mit grünen und linken Thinktanks verwoben ist, und keine Weiterentwicklung, sondern Abschaffung des bekannten deutschen Erfolgsmodells bedeutet. Die Umstrukturierung der Wirtschaftsordnung geht nicht nur mit Infrastrukturprojekten einher, die trotz Bekenntnis zur Schuldenbremse finanziert werden sollen. Das Thema „Fachkräfte“ fällt dabei auf: „Deutschland ist ein modernes Einwanderungsland. […] Daher wollen wir ein modernes Staatsangehörigkeitsrecht schaffen. Wir wollen das Fachkräfteeinwanderungsgesetz praktikabler ausgestalten. Wir wollen außerdem ein Punktesystem als zweite Säule zur Gewinnung von qualifizierten Fachkräften einführen.“ Die Ankündigung, dass das alte Staatsbürgerschaft zugunsten einer Geburts- oder gar Wohnortsorientierung wegfallen könnte, schwingt deutlich mit.
Keine Steuererhöhungen, so lautet die Parole. Sie soll die liberale Gleichberechtigung unterstreichen. Schaut man auf den Abschnitt, der diesen Punkt betrifft, kommt man jedoch ins Grübeln: „Wir werden keine neuen Substanzsteuern einführen und Steuern wie zum Beispiel die Einkommen-, Unternehmens- oder Mehrwertsteuer nicht erhöhen.“ Insbesondere die Grünen hatten zur Finanzierung ihrer Klimaschutzpläne eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer gefordert. Ist diese „Substanzsteuer“ vom Tisch? Ein Schlupfloch bleibt: Die Vermögenssteuer wurde nie abgeschafft, sondern wird nur nicht erhoben. Das Vermögenssteuergesetz besteht weiterhin. Es wäre demnach keine „neue“ Steuer, sondern eine Reaktivierung.
Dass die FDP ihr Mantra der „freien Fahrt für freie Bürger“ durchsetzen konnte, gilt als großer Erfolg, der in den Reihen der Liberalen gefeiert wird. Haben wir uns so sehr an den Ausnahmezustand und die Aussetzung von Grundrechten gewöhnt, dass ungehindertes Schnellfahren der erste Gedanke ist, wenn wir an die Zukunft des Liberalismus denken? Nahezu klanglos versinkt dagegen der Passus, dass SPD und Grüne sich bei den Kinderrechten durchgesetzt haben. Scholz, der Vaters des Spruchs über die staatliche „Lufthoheit über die Kinderbetten“, macht keine Gefangenen: „Wir wollen starke Kinderrechte im Grundgesetz verankern“, so heißt es in einem Satz. Papa und Mama dürfen über die Autobahn rasen, werden dafür aber in ihrem privatesten Bereich beschnitten.
Überhaupt, Europa! „Wir wollen eine aktive Europapolitik betreiben – auch entlang einer starken deutsch-französischen Partnerschaft und in einer engen Zusammenarbeit im Weimarer Dreieck.“ Ein bemerkenswerter Passus, gehört doch ausgerechnet Polen zu letzterem. Dasselbe Polen, dass derzeit mit allen Mitteln als illiberaler Unrechtsstaat gegeißelt, und dem EU-Förderungen vorenthalten werden sollen. Die Ampel geht wohl davon aus, dass bald der EU-Vertreter Donald Tusk als Ministerpräsident in Warschau inthronisiert wird. Womöglich mithilfe oben genannter Vorgänge, um „liberalen Demokratien“ zu helfen.
Die sexuelle Frage ist bekanntlich ein wichtiger Inhalt dieser „liberalen Demokratien“ geworden. Ein Verbot der Diskriminierung der sexuellen Identität soll in Artikel 3 des Grundgesetzes verankert werden. Der Angriff auf die traditionelle Familie wird mit einer Anpassung der Rechtsordnung an die „gesellschaftliche Realität“ (sic!) rechtfertigt: „Dazu werden wir u.a. das Staatsangehörigkeitsrecht, das Familienrecht, das Abstammungsrecht und das Transsexuellengesetz ebenso wie die Regelungen zur Reproduktionsmedizin anpassen und beispielsweise Verantwortungsgemeinschaften bzw. einen Pakt für Zusammenleben möglich machen.“
Und dann der Klima-Hammer: Alle geeigneten Dächer sollen für Solarenergie genutzt werden, bei privaten Neubauten die Regel, bei gewerblichen verpflichtend (gleichzeitig plant man den Bau von 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr). Zwei Prozent der Landesfläche sollen für Windkraft ausgewiesen werden, die Kapazität auf dem Wasser „erheblich steigen“. Ein „beschleunigter Ausstieg“ aus dem Kohlestrom sei nötig, „idealerweise gelingt das schon bis 2030“. Das verlange „den von uns angestrebten massiven Ausbau der Erneuerbaren Energien und die Errichtung moderner Gaskraftwerke“ – offenbar hatte keiner der Sondierenden die Chance, während der Debatten mal die Weltlage zu sondieren. Dafür soll die EEG-Umlage im Laufe der Legislatur „so schnell wie möglich“ beendet werden. Ab 2035 sollen nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge fahren dürfen.
Der versprochene Aufbruch ist also keiner ins Ungewisse. Alt-Hippie-Rezepte, wohltuende Sozialmusik und einige liberale Feigenblätter verdecken den Blick darauf, was das Sondierungspapier wirklich ist: mehr Staat für alle. SPD, Grüne und FDP haben vereinbart, mit den Koalitionsverhandlungen zu beginnen. Noch sind nicht alle Punkte besprochen. Es schwingt die Befürchtung mit, dass es nicht das Ende des sozial-ökologischen Wunschtheaters ist, bei dem die Liberalen mal die Rolle als staatstragende Stütze, mal als Wadenbeißer und mal als Prügelknabe ausfüllen dürfen. Die Deutschen dürfen sich dagegen warm anziehen. Vielleicht schon diesen Winter.