1. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) erweckt den Eindruck, er hätte eine Art Schlusswort in der Wahlchaos-Affäre gesprochen: laut „Tagesspiegel“ geht er „nach jetzigem Stand nicht davon aus, dass die Wahl in großem Umfang wiederholt werden muss“. Die Bundestagswahl und die Zweitstimmenabgabe zum Berliner Abgeordnetenhaus sei seiner Ansicht nach von einer möglichen Wahlwiederholung nicht betroffen: Nur „bei der Erststimme der Abgeordnetenhauswahl gibt es einige Wahlkreise – 1, 2 oder 3 -, bei denen es zu Überprüfungen und Nachwahlen kommen kann.“ Ist die Einschätzung des Politikers realistisch?
Nein. Erstens entscheidet der Innensenator nicht über die Gültigkeit der Wahlen. Das Überprüfungsverfahren steht außerdem noch ganz am Anfang. Am 14. Oktober wird das amtliche Endergebnis der Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen und zum Abgeordnetenhaus von Berlin bekanntgegeben. Erst von diesem Zeitpunkt an kann die Wahl vor dem Landesverfassungsgericht angefochten werden. Am 15. Oktober soll eine Sondersitzung des Innenausschusses im Abgeordnetenhaus zu den schwerwiegenden Pannen und Unregelmäßigkeiten bei der Wahl stattfinden. Darüber hinaus hatte der Berliner Abgeordnete Marcel Luthe (Freie Wähler) eine Reihe von Fragen zu dem Wahldesaster an den Senat gestellt. Von den Antworten auf seine Fragen und den Stellungnahmen in der Innenausschusssitzung, so Luthe zu TE, werde er abhängig machen, ob er die Wahl anfechte, weil sich aus beidem noch weitere Begründungen ergeben können. „Es spricht derzeit viel dafür, dass eine Wahlwiederholung nötig wird“, so Luthe zu TE. „Die Anwälte für einen Antrag auf Wahlwiederholung und möglicherweise Wahlanfechtung habe ich schon mandatiert. Es steht alles bereit, um dann schnell entsprechende Schritte einzuleiten.“
Auch Martin Sonneborn von „Die Partei“ kündigte einen Antrag auf Wahlüberprüfung an.
Über Wiederholung der Wahl für die Berliner Parlamente entscheidet der Berliner Verfassungsgerichtshof, über Einsprüche gegen die Abstimmung zum Bundestag der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags und dann gegebenenfalls noch das Bundesverfassungsgericht. In Bezug auf die Bundestagswahl können nicht nur Berliner Einspruch erheben, sondern alle Wahlberechtigten in Deutschland.
Eine Wahlwiederholung nur für die Berliner Landtagswahl-Erststimmenabgabe, wie sie Geisel erwähnte, ist kaum möglich: Das wäre ein neues Wahlverfahren, für das es bis jetzt keine gesetzliche Grundlage gibt.
2. Welches sind die Hauptangriffspunkte für die Anfechtung der Wahlen?
Zum einen räumen Wahlvorstände ein, dass in einer unbekannten Zahl von Fällen Minderjährige ihre Stimme auch für das Abgeordnetenhaus und den Bundestag abgeben konnten – sie hätten demnach rechtswidrig gewählt. Grund dafür ist eine Berliner Besonderheit: Die Bezirksverordnetenversammlung darf schon von 16jährigen und von EU-Ausländern mitgewählt werden. In etlichen Wahllokalen bekamen Jugendliche aber nicht nur den Wahlschein für das Gemeindeparlament ausgehändigt, sondern auch die anderen. Ausweise wurden nicht kontrolliert.
Eine ebenfalls unbekannte Zahl von Berlinern wurde deutlich nach 18 Uhr nach Hause geschickt mit der Begründung, es gebe keine Wahlzettel mehr. Andere gingen während der regulären Wahlzeit nach stundenlangem Anstehen wieder, weil in Stimmlokalen Wahlzettel ausgegangen waren, und mancherorts auch zu wenige Wahlkabinen zur Verfügung standen – wodurch sich die Wahlwilligen stauten. Sollte es zu einer gerichtlichen Überprüfung kommen, wird auch zu klären sein, welche Wartezeit für einen Wahlwilligen noch zumutbar ist, und ab wann vor allem für Bürger, die am gleichen Tag noch berufliche Verpflichtungen hatten oder gesundheitlichen Einschränkungen unterliegen, eine überlange Wartezeit als Verhinderung der Stimmabgabe gilt.
Außerdem wurden mehrere hundert Stimmzettel für den falschen Stimmbezirk ausgegeben. Wurden sie ausgefüllt, gelten sie als ungültige Stimmen. Die Bürger wurden also ebenfalls um ihr Stimmrecht gebracht.
Wieviel illegale Stimmen in den Urnen landeten, und wie viele Bürger an der Stimmabgabe gehindert wurden, lässt sich kaum noch feststellen. Deshalb geht auch das Argument der „Mandatsrelevanz“ ins Leere: Es lässt sich in beiden Fällen nicht durch Nachzählung überprüfen, in welchem Maß die Unregelmäßigkeiten die Vergabe von Mandaten verzerrt haben könnte.
3. Gab es neben den offensichtlichen Schlampereien auch Fahrlässigkeiten von staatlicher Seite, die das Wahlergebnis womöglich verzerrt haben?
Ja, mehrere. Die Berliner Wahlbehörde versäumte es, unterschiedliche Briefwahlumschläge und verschiedene Urnen für die Stimmen zur Bezirksverordnetenversammlung und zu den anderen Parlamenten auszugeben beziehungsweise aufzustellen. Nach mehreren Schilderungen bekamen Minderjährige, die Briefwahlunterlagen für das Bezirksparlament angefordert hatten, auch hier Unterlagen für die anderen Wahlen, an denen sie nicht teilnehmen durften. Da die Briefwahlunterlagen nicht zu unterscheiden waren und alle in den gleichen Urnen landeten, lassen sich im Nachhinein auch fälschlich ausgegebene Briefwahlunterlagen nicht mehr identifizieren.
Außerdem hatten einige Wahlhelfer, da Stimmzettel fehlten, einfach Ersatzstimmzettel per Kopierer gefertigt. Das war vielleicht gut gemeint, öffnete aber ein Tor für Manipulationen. Möglicherweise illegal angerfertigte Kopien lassen sich nicht mehr feststellen.
Auch der Weg der offiziellen Stimmzettel ist offenbar nicht vollständig dokumentiert worden. Reporter der BZ fanden nach der Wahl durchgerissene Original-Stimmzettel hinter einem Wahllokal im Müll. Angesichts des angerichteten Chaos ist es nicht ausgeschlossen, dass Blanko-Stimmunterlagen illegal beiseitegeschafft, ausgefüllt und unter die regulären Stimmzettel gemischt wurden. In etlichen Lokalen waren die Stimmen am Wahlabend nicht ausgezählt und dokumentiert, sondern nur geschätzt worden – was illegale Machenschaften erleichtert haben könnte.
4. Kann der neue Berliner Landtag überhaupt wie geplant zusammentreten?
Wenn es zu Anfechtungen kommt, womöglich nicht. Die konstituierende Sitzung des Abgeordnetenhauses ist für den 4. November 2021 vorgesehen. Sollte das Landesverfassungsgericht hinreichende Gründe für eine Anfechtung sehen, müsste es auch unterbinden, dass ein möglicherweise nicht ordnungsgemäßes Parlament zusammentritt. „Das Gericht müsste dann verhindern, dass ein weiterer Schaden eintritt“, so Luthe. „Denn die Mandate des alten Parlaments verlieren automatisch ihre Gültigkeit, sobald das neue zusammentritt. Das bisherige Abgeordnetenhaus ist aber im Gegensatz zu dem neuen nicht auf zweifelhafte Weise zustande gekommen.“
Sollte diese Entscheidung so fallen, würde sich die Regierungsbildung in Berlin erheblich verzögern. Denn das Abgeordnetenhaus muss die neue Regierende Bürgermeisterin wählen.