„Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30. Oktober 1961 war kein Akt der Nächstenliebe oder gar ein Zeichen fortschrittlicher Zuwanderungspolitik. Deutschland war knapp an Arbeitskräften. Die Optionen lauteten entweder Wachstumsverzicht oder Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland.“
Diesen Satz sagte Frank-Walter Steinmeier in seiner Rolle als Präsident der Bundesrepublik Deutschland anlässlich eines „Festakts der Türkischen Gemeinde in Deutschland zum 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens“ – und er nahm ihn zum Anlass, in der gewohnten, geschichtsklitternden Manier über die nazi-infizierten, bösen Deutschen zu schwadronieren, deren „Engstirnigkeit“ dafür gesorgt habe, dass viele Probleme im Verhältnis zwischen Gastarbeitern und Deutschen überhaupt erst entstanden seien. Wobei Steinmeier sich bereits am Begriff „Gastarbeiter“ reibt und einmal mehr das gebetsmühlenartig vorgetragene Narrativ von alltäglichem „Hass und Hetze“ verbreitet, mit dem die rotgrüne Minderheit den Versuch unternimmt, das Denken einer im Wesentlichen alles andere als ausländerfeindlichen Bevölkerung in seinem Sinne gleichzuschalten: „Diese bessere Zukunft wird es nicht geben, solange Ausgrenzung, Vorurteile, Ressentiments den Alltag unserer Gesellschaft immer noch durchziehen. Mich erschüttert es, wenn Menschen mit anderer Hautfarbe, Sprache oder Religion bis heute zur Zielscheibe von Hass und Hetze werden. Wenn sie angefeindet werden, im Netz oder auf der Straße. Wir wissen doch: Das sind nicht nur Worte, sondern das ist ein Gift, das Wirkung hat. Das ist ein Gift, das immer wieder Menschen glauben macht, sie dürften im Namen eines angeblichen Volkswillens andere Menschen demütigen, bedrohen, jagen oder gar ermorden.“
Schuld soll gefügig machen
Die Deutschen – ein Volk von Rassisten und Ausländerhassern! Der vorgeblich nationale Irrtum, dem die Deutschen in Steinmeiers Erzählung unterliegen, lässt sich für den Sozialdemokraten in einem Satz des Schriftstellers Max Frisch zusammenfassen, der bereits 1965 so zutreffend klang, wie er in der Sache falsch war. Frisch verkündete seinerzeit: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen!“
Die Unwahrheit des Max Frisch
Denn eine Unwahrheit ist es und bleibt es. Das, was 1965 Max Frisch gesagt und damit zur Grundlage der Legendenbildung gemacht hat, bleibt eine Unwahrheit ebenso wie jene Märchenerzählungen, mit denen Steinmeier die bundesdeutsche Geschichte umzuschreiben versucht. So macht es Sinn, sich die wahre Geschichte des Abkommens mit der Türkei in Erinnerung zu rufen. Jene Geschichte, die eben nicht von einem angeblichen Arbeitskräftemangel schwadroniert, sondern sehr konkret die globalpolitischen Aspekte ebenso aufzeigt wie die ökonomischen. Wobei letztere eben nicht, wie heute gelogen, bundesdeutsche gewesen sind, sondern türkische.
1961 gab es keinen Bedarf an Arbeitskräften
Anders als in der Legendenbildung behauptet, bestand 1961 kein realer, arbeitsmarktpolitischer Bedarf am Import zusätzlicher Arbeitskräfte, die seinerzeit aufgrund ihrer mangelhaften Qualifikationen ohnehin nur im Bereich des Niedriglohnsektors zum Einsatz kommen konnten. Der Arbeitskräftemangel, der in den Fünfzigerjahren angesichts des Wiederaufbaus partiell tatsächlich bestanden hatte, war längst mit Gastarbeitern aus Italien, Spanien, Griechenland und Jugoslawien gedeckt worden. Menschen, die zumeist befristet in die Bundesrepublik kamen und nicht selten in ihre Heimat zurückkehrten, um sich dort eigene Existenzen aufzubauen.
Nicht Deutschland rief – die Türkei bat
Damit war alles gesagt, was hinsichtlich späterer Legendenbildung als auch der tatsächlichen Motivationen zum Abschluss eines Anwerbeabkommens mit der Türkei festzuhalten ist:
1. Der Wiederaufbau der Nachkriegszeit war 1960 weitgehend abgeschlossen. Deutschland hatte sich zu diesem Zeitpunkt aus der sogenannten „Stunde Null” der Kriegsverheerung dank Marshall-Plan, der Leistungsbereitschaft seiner Menschen und der Innovationsfähigkeit seiner Unternehmen wieder eine führende Position unter den Industrienationen erarbeitet.
2. Der Abschluss des Anwerbeabkommens mit der Türkei folgte keiner ökonomischen Notwendigkeit, sondern politischen Motiven. Es galt, den für die Sicherung der europäischen Südostflanke als unverzichtbar erklärten NATO-Partner eng an Westeuropa zu binden. Diesem Zweck dienten sowohl die Verhandlungen und der Abschluss eines Assoziierungsabkommens zwischen dem EU-Vorgänger EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) als eben auch das 1961 abgeschlossene Anwerbeabkommen zwischen Bonn und Ankara.
3. Eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, anatolische Beschäftigungslose in die Bundesrepublik zu holen, bestand auf deutscher Seite nicht. Sehr wohl aber half der Export von Arbeitskräften der Türkei nicht nur dabei, innere Unruhen abzufedern, sondern organisierte durch den Strom der „Gastarbeitergelder“ auch einen dringend benötigten Devisenzufluss.
Der deutsche Irrtum war der Glaube an Verträge
Der deutsche Irrtum lag nicht in der Erwartung, dass statt Menschen Gastarbeiter kämen – er lag in der Annahme, dass jene Vereinbarungen, die auf Bitten der Türkei und auf Drängen vor allem der USA zur Anwerbung anatolischer Arbeitnehmer abgeschlossen wurden, das Papier wert seien, auf dem sie standen. Auch war die Vorstellung, mit diesem Abkommen eine kulturfremde Bevölkerung Wohnbevölkerung dauerhaft ins Land zu holen, angesichts der guten Erfahrungen mit den südeuropäischen Arbeitskräften aus dem europäischen Kulturkreis seinerzeit fern jeglicher Vorstellungskraft. Vor allem aber hatte das Anwerbeabkommen selbst klare und eindeutige Verhältnisse schaffen wollen. Arbeitnehmer aus der Türkei dürften maximal für zwei Jahre in Deutschland tätig sein – und für die Rückführung hatte im Zweifel der türkische Staat zu sorgen.
In den Positionen 9 und 10 des Abkommens ist zu lesen:
Eine türkische Einwanderung war nicht vorgesehen
Das Abkommen mit der Türkei von 1960 war weder darauf angelegt, längerfristig in Deutschland tätige, türkische Neusiedler anzuwerben, noch sollte es gar eine Welle türkischer Einwanderung veranlassen. Die Legende von jenen Türken, die Nachkriegsdeutschland aufgebaut hätten, erweist sich bereits auf der Grundlage des damaligen Vertragstextes als Lügenmärchen. Die Bereitschaft der Deutschen, arbeitslose Anatolier befristet ins Land zu lassen, war vielmehr nichts anderes als ein kleiner Beitrag der deutschen Entwicklungshilfe für eine wirtschaftlich am Boden liegende Türkei. Aus diesem Abkommen Ansprüche gegen Deutschland und Deutsche ableiten zu wollen, darf insofern durchaus als dreist bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil: Legte man jene niemals gekündigte Vereinbarung von 1961 zugrunde, so wäre die Türkei auch heute noch verpflichtet, ihre Staatsbürger jederzeit unwidersprochen zurückzunehmen.
Es kam anders als gedacht
Gleichwohl – so ist es häufig in der Realpolitik – sollte sich die ursprüngliche Intention des Anwerbeabkommens in eine gänzlich andere Richtung entwickeln.
Maßgeblich verantwortlich dafür ist das EWG-Assoziierungsabkommen vom 12. September 1963. Mit diesem Abkommen erhielt die Türkei die Möglichkeit eines späteren, jedoch nicht datierten Beitritts zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, dem Vorläufer der Europäischen Union. Mit der Ausarbeitung WD3-3000-159/16 vom 17. Juni 2016 „Zur aufenthaltsrechtlichen Rechtsstellung türkischer Staatsbürger“ machte der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages noch einmal deutlich, dass auf Grundlage des Assoziierungsabkommens sowie des seit 1999 geltenden, offiziellen Status der Türkei als EU-Beitrittsland für türkische Staatsbürger in Deutschland eine privilegierte Stellung „gegenüber anderen Drittstaatenangehörigen“ gilt. Faktisch besteht, nachdem eine rechtmäßige Einreise zu rein touristischen Zwecken erfolgt ist, kaum eine Möglichkeit, türkische Staatsbürger des Landes zu verweisen.
Gleichwohl stellt der Wissenschaftliche Dienst fest: „Das Nebeneinander von ‚normalem‘ Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige und besonderen Aufenthaltsrechten aus der Assoziationsfreizügigkeit führt zu einer unübersichtlichen Rechtslage.“ Tatsächlich sind Bürger der Türkei bei der Einreise ähnlich gestellt wie andere Nicht-EU-Bürger. Sobald sie jedoch im Land sind und über einen längeren Zeitraum eine Beschäftigung nachweisen, werden sie rechtlich im Wesentlichen EU-Bürgern gleichgestellt.
1973 endet die Epoche der Gastarbeiter
Erwies sich die zeitliche Beschränkung auf maximal zwei Jahre Aufenthaltsdauer schnell und nicht zuletzt aufgrund des EWG-Assoziierungsabkommens als untauglich auch deshalb, weil es die Gastarbeiter daran hinderte, sich in qualifizierte Tätigkeiten vermitteln zu lassen, so endete unabhängig davon die „Ära der Gastarbeiter“ abschließend am 23. November 1973.
Verursacht durch den sogenannten Ölschock, ausgelöst dadurch, dass die Muslime Arabiens in ihrem Kampf gegen das demokratische Israel das schwarze Gold als Waffe gegen den Westen eingesetzt hatten, veröffentlichte der sozialdemokratische Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Walter Arendt, per Erlass an die Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg die Order, unmittelbar jedwede Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften – Italiener ausgenommen – einzustellen.
Wörtlich lautete die Anweisung an den Präsidenten der Bundesanstalt: „Es ist nicht auszuschließen, daß die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird. Unter diesen Umständen ist es nicht vertretbar, gegenwärtig weitere ausländische Arbeitnehmer über die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit für eine Arbeitsaufnahme in der Bundesrepublik zu vermitteln.
Nach Zustimmung durch das Bundeskabinett bitte ich unter Bezugnahme auf § 19 Abs. 4 AFG die Auslandsdienststellen der Bundesanstalt für Arbeit – ausgenommen die Deutsche Kommission in Italien – anzuweisen, ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen. Diese Maßnahme gilt bis auf Widerruf.
Ausländischen Arbeitnehmern, die im Ausland bereits einen Arbeitsvertrag abgeschlossen haben, ist die zur Einreise und Arbeitsaufnahme notwendige Legitimationskarte jedoch noch auszustellen. In diesem Zusammenhang bitte ich, mir mitzuteilen, in wieviel Fällen mit ausländischen Arbeitsnehmern, die auf Kosten inländischer Unternehmen im Herkunftsland auf ihre berufliche Tätigkeit in der Bundesrepublik vorbereitet werden, bereits Arbeitsverträge abgeschlossen worden sind. …
Ich habe den Bundesminister des Auswärtigen gebeten, über die deutschen diplomatischen Vertretungen die Regierungen der Anwerbestaaten in geeigneter Weise von dem zeitweiligen Anwerbestopp zu unterrichten und hierfür um Verständnis zu bitten. Die Sozialattachés der Botschaften der Heimatländer werden von hier aus unterrichtet.“
Das Gastarbeiter-Missverständnis liegt bei der SPD
Diese Anweisung aus dem Hause des SPD-Arbeitsministers macht deutlich:
– Für die deutsche Sozialdemokratie galt die zeitweilige Zuwanderung von Ausländern im Widerspruch zur Situation des Jahres 1960 auch 1973 als ausschließlich arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Die übergeordneten Aspekte der NATO-Verpflichtungen nebst Entwicklungshilfe durch Geld- und Wissenstransfer in die Länder Südeuropas fanden ebenso keine Berücksichtigung wie die Verpflichtungen aus dem zu diesem Zeitpunkt bereits seit zehn Jahren bestehenden Assoziierungsabkommen.
– Daher ging die sozial-liberale Bundesregierung im November 1973 offensichtlich davon aus, den Großteil der Gastarbeiter wieder in seine Heimatländer zurückschicken zu können. Arbeits- und damit Aufenthaltserlaubnisse sollten nur noch äußerst restriktiv vergeben werden – die Möglichkeit eines Aufenthaltes ohne Arbeitsplatz wurde ausgeblendet, weil auf Grundlage der Anwerbeabkommen nicht vorgesehen.
– Die Anwerbeabkommen mit den Anwerbeländern wurden nicht gekündigt, sondern lediglich ausgesetzt. Eine förmliche Kündigung der Abkommen erfolgte zu keinem Zeitpunkt, sodass de jure die Abkommen bis heute in Kraft und ihr Vollzug der Anwerbung lediglich unbefristet ausgesetzt ist. Auf Grundlage dieser Verträge hätte die Bundesrepublik auch gegenwärtig zumindest theoretisch die Handhabe, ausländische Arbeitnehmer, deren Arbeitsverträge und/oder Aufenthaltsgenehmigungen ausgelaufen sind, umgehend in ihre Herkunftsländer zurück zu senden.
Die normative Kraft des Faktischen allerdings hatte die Vertragssituation von 1960 längst überrollt. 1967 hatte in Griechenland das Militär eine Diktatur errichtet – griechische Bürger waren nun in der Lage, politisches Asyl zu beantragen – eine Zurücksendung bleibewilliger Griechen politisch nicht zu vertreten. 1971 hatte das türkische Militär einmal mehr die Macht in der maroden Türkei übernommen – für türkische Bürger galt daher nun ähnliches wie für Griechen.
1973 lebten vier Millionen Ausländer in Deutschland
Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps im Jahr 1973 lebten rund vier Millionen Ausländer in Deutschland. Tatsächlich führte der Erlass des Ministeriums kurzfristig sogar zu einer Abnahme der Zahlen: Insbesondere Menschen aus den südwesteuropäischen Ländern, die mittlerweile dank bundesdeutscher Hilfe und EWG deutlich an Wirtschaftskraft gewonnen hatten, zog es zurück in ihre Heimat. Jene allerdings, die aus ärmlichsten Verhältnissen Anatoliens nach Deutschland gekommen waren und die Vorzüge der europäischen Zivilisation zu lieben gelernt hatten, zogen eine andere Konsequenz. Sie setzten nicht nur alles daran, selbst in der Bundesrepublik zu bleiben, sondern ihre Familien nachzuholen. Somit wandelte sich auch mental die Anwerbung von Gastarbeitern zur Einwanderung. In der Folge verfügten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2020 bereits 22 Millionen Menschen und damit gut ein Fünftel der Wohnbevölkerung in der BRD über Migrationshintergrund – die mit Abstand größte Gruppe stellen die Türkeistämmigen.
Es ist nachvollziehbar, dass Parteipolitiker wie Steinmeier versuchen, diese Bevölkerung durch gefällige Märchenerzählungen an sich zu binden. Fake News bleiben die Aussagen des Bundespräsidenten ebenso wie der Frisch-Satz von 1965 dennoch. 1960 war es die Türkei, die darum bettelte, überschüssige Arbeitskräfte zwecks Erwirtschaftung von Devisen für das am Boden liegende Land an der Südostflanke der NATO in die boomende BRD entsenden zu dürfen. Gerufen hatte die Türken keiner – und zum Wiederaufbau wurden sie auch nicht mehr benötigt. Steinmeier erzählt Märchen, die die türkeistämmige Bevölkerung der Bundesrepublik gern hören möchte. Aber es sind und bleiben Märchen.