Am Sonntag hat Deutschland gewählt. Nun diskutieren und entscheiden die Parteien, was dieses Wahlergebnis bedeuten mag. Das ist so der Lauf der Dinge. Doch im Schatten dieser Ereignisse, nur gut 100 Kilometer weiter östlich, findet etwas statt, das der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend entzogen ist.
Ost-Brandenburg erlebt in diesen Wochen Szenen, die man aus dem griechisch-türkischen Grenzgebiet kennt. Hier wie dort reisen Migranten ohne gültige Einreisepapiere durch sichere Drittländer ein, im Fall Brandenburgs übrigens durch ein oder mehrere EU-Länder. Hier wie dort wird der Migrationsdruck bewusst von einem Nachbarland der EU geschürt, um Interessenpolitik zu betreiben. Einmal ist es die Türkei, mit der die EU Verträge und Abkommen unterzeichnet, einmal Weißrussland, das man aufgrund der Herrschaft des Lukaschenko-Regimes diplomatisch zu isolieren sucht.
Für Deutschland ist diese Erfahrung insofern neu, als die irreguläre Migration in diesem Fall auf eine Grenze trifft, die eigentlich durch die Kooperation der Bundespolizei mit den polnischen Grenzschutzbehörden als gut gesichert gelten kann. Wie unter einem Mikroskop kann man folglich die irreguläre Zuwanderung beobachten, die sich sonst nur als fernes Verwaltungshandeln darstellt.
Drei Viertel sind Iraker – Frankfurt/O. als Hotspot des Geschehens
Während des Sommers haben sich die irregulären Einreisen über die deutsch-polnische Grenze sprunghaft gesteigert. Waren es im August laut Angaben noch 474 Migranten, so wurde diese Zahl im September vierstellig. Allein an der polnisch-brandenburgischen Grenze wurden im laufenden Monat über 1.000 irreguläre Migranten aufgegriffen. Auf dem Gelände der Bundespolizei in Frankfurt wurden Zelte aufgestellt, um die eingesammelten Migranten human zu betreuen. Diese Zelte dienten als Warteraum während der Registrierung. Inzwischen kann die Bundespolizei diese Arbeit direkt in der Erstaufnahmeeinrichtung in Eisenhüttenstadt vornehmen.
Doch wie kommen diese Migranten überhaupt bis an die deutsch-polnische Grenze? Ungleich Deutschland hat unser östliches Nachbarland ja eine harte Grenzschutzpolitik verkündet und tausende Soldaten dafür mobilisiert. An der polnischen Grenze werden die Migranten routinemäßig zurückgewiesen. Sie versuchen es aber – von den weißrussischen Beamten ermutigt – einfach von neuem. Schaffen sie es endlich über die Grenze, finden sich bald neue Schleuser. Das kann man fast nur noch mit Netzwerken erklären, die sich in kürzester Zeit zu beiden Seiten der Grenze gebildet haben. Mit Taxis geht es in wenigen Stunden bis zur deutsch-polnischen Grenze.
Die Bundespolizei fahndet unter Hochdruck nach illegal Einreisenden
Dort ragt vor allem Frankfurt an der Oder als Hotspot des Geschehens heraus, weil Autobahnen und andere Verkehrswege auf es zu führen. Die weiter südlich gelegenen Städte Forst und Guben bilden wegen ihrer Verkehrsanbindung kleinere Schwerpunkte. Daneben gibt es aber auch immer mehr Grenzübertritte über die sogenannte »grüne Grenze«, also abseits der großen Verkehrswege, entlang der Oder und der Neiße, so der Sprecher der Bundespolizei. Auch weiter südlich, im sächsischen Ludwigsdorf, häuften sich zuletzt die illegalen Grenzübertritte, zum Teil im Kofferraum von Privatwagen.
Aber was bringen die Fahndungen der Bundespolizei daneben für die Bundesrepublik ein? Werden Migranten ohne die zur Einreise nötigen Papiere aufgegriffen, dann ergibt sich daraus zunächst ein Ermittlungsverfahren wegen unerlaubter Einreise. Sobald aber ein »Schutzersuchen« des Migranten vorliegt, übernimmt automatisch das BAMF, und die Personen kommen in die Zentrale Ausländerbehörde des Landes nach Eisenhüttenstadt.
Um die tausend Asylbewerber in einem Monat – wie schafft Brandenburg das?
Rätselhaft bleibt, wie die Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt mit diesem für das Land enormen Zufluss umgeht und klarkommt. Denn zu den mehr als 1.500 Weißrussland-Polen-Migranten, die es allein im August und September nach Brandenburg geschafft haben, kamen laut dem Sprecher des Potsdamer Innenministeriums, Martin Burmeister, um die 400 Personen hinzu, die aus anderen EU-Staaten – also beispielsweise Griechenland – kommen und auf dem Flughafen BER in Brandenburg landen. Doch auch damit sind wir noch nicht am Ende der Rechnung. Hinzuzählen muss man außerdem »etwa 400 übliche Asylantragsteller«, mit denen laut Burmeister wohl schlicht zu rechnen ist, wie der RBB berichtet.
Allein im August und September gab es demnach um die 2.300 illegale Einreisen nach Brandenburg. Das Potsdamer Innenministerium hat diese Zahl gegenüber TE etwas nach unten korrigiert und spricht von »fast 2.000« neuen Asylbewerbern in den beiden Monaten. Worauf beruht die Differenz? Etwa auf den Zurückweisungen oder Rückführungen, die ZABH-Chef Jansen bei 20 Prozent taxiert? Die Erstaufnahmeeinrichtung Eisenhüttenstadt verfügt laut dem Innenministerium an verschiedenen Standorten über Platz für 3.500 Asylbewerber. Am 30. September waren angeblich 2.500 Plätze belegt. Daneben seien Asylbewerber auch auf andere Bundesländer verteilt worden. Trotz allem handelt es sich für Innenministeriumssprecher Burmeister nicht um eine »Situation, die zu einer Beunruhigung führen sollte«. Burmeister sieht hier lediglich »gestiegene Herausforderungen«, das sei alles »beherrschbar«.
Etwas anderer Meinung scheint Olaf Jansen, der Leiter der Zentralen Ausländerbehörde (ZABH) des Landes und zugleich der Erstaufnahme Eisenhüttenstadt, zu sein. Er rechnet laut B.Z. auch für die kommenden Monate mit jeweils »mehr als tausend« neuen Antragstellern und läutet insofern deutlich vernehmbar die Alarmglocke. Laut Jansen nimmt Polen nur etwa 20 Prozent der Migranten zurück, nämlich diejenigen, die dort schon einen Asylantrag gestellt haben. Für die restlichen 80 Prozent bleibe nur die Duldung, weil auch der Irak keine Abschiebungen akzeptiert.
Warum bleiben Zurückweisungen an der Grenze aus?
Nach Informationen von TE werden in einzelnen Fällen auch aufenthaltsbeendende Maßnahmen, also Zurückweisungen an der Grenze, von der Bundespolizei durchgeführt. Allerdings ist das beim Großteil der über Weißrussland eingereisten Migranten angeblich nicht praktikabel. Warum nicht, erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Laut der Dublin-III-Verordnung ist dasjenige EU-Land, dessen Territorium ein Migrant zuerst betritt, auch für den folgenden Schutzantrag zuständig.
So recht kompliziert wird die Lage aber erst durch die gewohnheitsmäßige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Der EGMR befürwortet ein sehr weitgehendes Zurückweisungsverbot (Refoulement-Verbot), das sogar EU-Mitglieder untereinander betreffen kann. Zitiert wird hier eine Abschiebung von Belgien nach Griechenland, die der EGMR im Jahre 2011 durch eine Entscheidung zurückgewiesen hat.
Es wäre also nicht nur die EU als Ganzes und jeder einzelne EU-Mitgliedstaat gegenüber den Drittstaaten außerhalb der EU an das Nicht-Zurückweisungs-Gebot gebunden, sondern eventuell sogar ein Mitgliedsland wie Deutschland gegenüber einem anderen wie Polen. Wörtlich heißt es in der Handreichung der wissenschaftlichen Dienste des Bundestags:
»Gleichwohl hat der EGMR in der Vergangenheit entschieden, dass selbst im Hinblick auf EU-Mitgliedstaaten keine unwiderlegliche Vermutung dahingehend bestehe, dass eine Abschiebung in diese Staaten stets konventionskonform ist. Der Gerichtshof legt bei seiner Bewertung strengere Maßstäbe als jene der GFK (Genfer Flüchtlingskonvention) an. So kann sich eine „erniedrigende Behandlung“ bereits im Hinblick auf katastrophale Zustände in den Aufnahmeeinrichtungen des Abschiebestaates ergeben.«
Hier zeigt sich die ganze Absurdität eines vorgeblich wertegetragenen Staatenverbunds EU mit offenen Binnengrenzen. Denn EU-Binnengrenzen können unter anderem deshalb nicht geschützt werden, weil man sich nicht darauf verlassen kann (oder will), dass Migranten in einem anderen EU-Staat keine »erniedrigende Behandlung« drohe. Wo die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) vor allem die Gefahren für Leib und Leben vermeiden wollte, hat der Straßburger EGMR – dessen Neutralität in der Vergangenheit in Frage gestellt wurde – auch noch eine »erniedrigende Behandlung« oder gar »erniedrigende Lebensbedingungen« als unbedingt abzuwendendes Übel zur Liste des Wünschbaren hinzugefügt. Die wirtschaftliche Ungleichheit der EU-Mitgliedsstaaten wird so zum Skandalon. Eine Angleichung der Lebensbedingungen in der EU wird zur Voraussetzung eines für alle Mitglieder fairen Umgangs mit Migranten an der Grenze. Und doch ist diese Angleichung sicher nicht morgen oder übermorgen zu erwarten.