Dass es um Inhalte in der Union schon lange nicht mehr geht, haben die letzten eineinhalb Jahrzehnte unter Kanzlerin Angela Merkel anschaulich belegt. Ob die Übertragung des deutschen Stabilitäts-Credos auf den Euro-Währungsraum, das Voraussetzung für Kohls Ja zur Abschaffung der D-Mark und zur Euro-Einführung war; ob das Bekenntnis zur Kernkraft als Grundlastpfeiler einer langfristig zuverlässigen und bezahlbaren Stromversorgung; ob das Bekenntnis zu einer Bundeswehr als Bürgerarmee mit Wehrpflicht oder der engagierte Einsatz für eine marktwirtschaftliche Ordnung und gegen staatliche Planwirtschaft: Diese und viele andere Essentials einer einst stolzen Volkspartei, die Deutschland über Jahrzehnte Stabilität und Wohlstand zu sichern verstand und nicht zuletzt das schmale Zeitfenster für die deutsche Wiedervereinigung zu nutzen wusste, wurden sang- und klanglos beerdigt – fast immer ohne breite gesellschaftliche Debatte und erst recht ohne innerparteiliche Diskussion. Die EU-Schuldenunion ist Realität, die in der Klimadebatte wieder als CO2-neutrale Energieform entdeckte Kernkraft wird nächstes Jahr in Deutschland endgültig abgeschaltet, die Wehrpflicht ist perdu, und der Marsch in die staatliche Lenkungswirtschaft und die massive Überdehnung des Sozialstaats haben sich unter einer CDU-Kanzlerin massiv beschleunigt.
Doch die älteste deutsche Partei, die Sozialdemokratie, kennt ihren Markenkern: Der Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Die Grünen können für sich das Thema Ökologie reklamieren, das ihnen auch eine große Mehrheit der Bevölkerung als Alleinstellungsmerkmal zugesteht. Die FDP gilt im Kern immer noch als liberaler Brückenkopf, der im Zweifel für weniger Staat und mehr bürgerliche und wirtschaftliche Freiheit eintritt. Und wieder die Frage: Wofür steht die Union – außer für den Willen zu regieren?
Dass sich Armin Laschet an die „Jamaica“-Hoffnung klammert, hat viel mit seiner persönlichen politischen Überlebensstrategie zu tun. Denn wird er nicht Kanzler, ist sein Rücktritt als Parteivorsitzender überfällig. Sein Ministerpräsidentenamt in NRW ist er ohnehin los. Auch Oppositionsführer in Berlin wird er nicht. Das hat er mehr als deutlich zu spüren bekommen, als am Dienstag die Unionsfraktion den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Ralph Brinkhaus befristet wiederwählte, aber schon andere Anwärter wie Friedrich Merz oder Jens Spahn Kampfkandidaturen für den Fall ankündigten, dass Brinkhaus für ein reguläres Jahr gewählt werden sollte, wie er selbst es ursprünglich wollte. Laschets Verhandlungsgeschick und die vage Hoffnung, die auch Söder klammheimlich doch mit „Jamaica“ verbindet, haben dem gescheiterten Kanzlerkandidaten der Union fürs Erste den fälligen Rücktritt erspart.
Angesichts der Medienlage und des Umfrage-Wunschkanzlers Olaf Scholz glaubt aber kein Insider in Berlin ernsthaft daran, dass die SPD-geführte Ampelkoalition nicht zustande kommt. Allerdings erhöhen Grüne und FDP ihren Marktwert in den Gesprächen mit der SPD allein schon dadurch, dass sie auch mit der Union sprechen. Das ist zwar taktisch durchsichtig, aber gängige politische Praxis. Die SPD könnte den Übermut der beiden regierungslüsternen kleineren Parteien nur bremsen, wenn sie selbst eine andere Machtoption ins Gespräch brächte. Das wäre eine Wiederauflage der Koalition mit der Union – aber unter einem SPD-Kanzler. Doch vor dieser Vorstellung graut den Sozialdemokraten so sehr, dass sie daran nicht einmal im Traum denken und sich lieber von Grünen und FDP programmatische und personelle Zumutungen abtrotzen lassen.
Mitleid mit der Union muss niemand haben. Ihre desaströse Lage ist selbst verschuldet. Fast schadenfroh reagieren selbst frühere Stammwähler auf diesen Absturz. Doch ob der Niedergang der einst konservativ-liberalen CDU/CSU Deutschland wirklich nützt, werden die kommenden Jahre unter einem SPD-Kanzler Olaf Scholz mit seiner rot-grün-gelben „Ménage à trois“ zeigen.