Alea jacta est – der Würfel ist gefallen. Das dachte sich für einen kurzen Moment der Spitzenkandidat der SPD, als ihm bewusst wurde, dass die Partei, die ihn als Vorsitzenden verschmäht hatte, im künftigen Bundestag stärkste Fraktion sein werde. Doch wer ihn länger kennt, der konnte bereits in der sogenannten Elefantenrunde in seinem Gesicht erste Anzeichen von Panik erkennen. Und das nicht ohne Grund.
Die Ampel ist nicht in Stein gemeißelt
Die nächste Bundesregierung wird eine Ampel unter Führung der SPD sein. Das schien nicht nur für Scholz in Stein gemeißelt – auch die TE-Redaktionskollegen schienen sich einig. Dabei gilt: In Stein gemeißelt ist nichts. Denn unter dem Strich ist das Wahlergebnis für fast alle desaströs. Die Union mit Armin Laschet an der Spitze – auf historischem Tiefststand noch hinter der SPD. Die Kommunisten, die ihr einstiges Zugpferd Sahra Wagenknecht durch ein linksextremistisches Emanzenpaar ersetzt hatten, nun sogar unter der Fünf-Prozent-Grenze. Eine AfD, die sich zwar erwartungsgemäß behaupten konnte, aber dennoch von Platz 3 auf den fünften zurückgefallen ist. Verhaltener Grund zum Jubel nur bei der FDP, die die Schwäche der Union nutzte und sich leicht verbessern konnte. Und dann Bündnis 90/Die Grünen. Eine Partei, die durch den von ihren Supportern in Medien und NGO gehypten Prognosenerfolg sogar meinte, mit einem Kanzlerkandidaten ins Rennen gehen zu müssen – und die insofern trotz eines spürbaren Zugewinns als gescheitert anzusehen ist.
Die Chancen des Olaf Scholz
Allen voran die SPD beginnt bereits zu greinen. Scholz erzählt etwas davon, es gäbe für ihn einen klaren Regierungsauftrag. Die Deutschen hätten einen Regierungswechsel, einen politischen Neuanfang gewählt. Ist dem so? Nun, dann sollte sich der Mann aus Osnabrück umgehend aus der Politik zurückziehen. Seine SPD schließlich war es, die in den vergangenen vier Jahren unter Merkel und einer inhaltlich entkernten Union die bundesdeutsche Politik bestimmt hat. Der Vizekanzler als Oppositionschef, der nun für einen Neuanfang steht? Lächerlich. Doch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil assistiert. „Die Deutschen“, die nun plötzlich wieder existieren dürfen, hätten Scholz als Kanzler haben wollen und Laschet quasi abgewählt. Eine hübsche Legende, die nur eines deutlich macht: Die Grundrechenarten sind nichts für Sozialdemokraten.
Also wird von der SPD hilfsweise der ohne Zweifel zu konstatierende Niedergang der Union als Argument angeführt. Es könne doch nicht sein, dass ein eindeutiger Verlierer dennoch den Regierungschef stellt, wird unisono verkündet. Nun, vielleicht sollten sich die Sozialdemokraten daran erinnern, dass sie ein solches Argument auch nie interessiert hat, wenn es darum ging, Verlierer aus ihren Reihen über die Rekrutierung von Hilfstruppen an der Macht zu halten. Das bundesdeutsche System ist nun einmal so: Es entscheidet die Mehrheit im Parlament. Wie die zustande gekommen ist, interessiert am Ende niemanden mehr.
Die FDP erweist sich als gelehrig
Gleichwohl – ist es nicht naheliegend, dass in den anstehenden Verhandlungen alles auf die sogenannte Ampel aus SPD, Grünen und FDP hinauslaufen wird? Wer am Wahlabend genau hinschaute, konnte schnell Zweifel bekommen. Christian Lindner, nun tatsächlich der starke Mann der FDP, hatte die Zeichen der Zeit als erster erkannt. Vor vier Jahren von einer SED-inspirierten Angela Merkel als LDPD gleich einer willenlosen Blockpartei behandelt, ist entschlossen, nun selbstbewusst in die Regierung einzusteigen. Nach dem Ausfall der Kommunisten, die sich Scholz als Drohmittel erhofft hatte, sitzt Lindner jetzt am langen Hebel. Noch einmal wird er sich eine solche Behandlung nicht gefallen lassen – weder von der Union noch von der SPD.
Eine Klatsche für Scholz und die Offerte an die Grünen
Dem SPD-Gefühlt-Kanzler fiel angesichts dieses Vorschlags alles aus dem Gesicht. Schlagartig begriff Scholz, der sich schon als Regierungschef sah: Noch ist überhaupt nichts gelaufen. Keine Veränderung hingegen bei Laschet – das Häuflein Elend ist trotz deklariertem Machtanspruch ohnehin nur noch Wachs in den Händen jener, die mit ihm spielen möchten. Ganz anders aber Baerbock. Bislang ebenfalls gequält in die Welt schauend, sah sie sich nun mit einem Mal wieder in der Mitte des Spielfeldes, sprach beglückt etwas von „Klimaregierung“.
Laschets Chance ist die Arroganz der SPD
Tatsächlich kann sich ein einiges Bündnis aus FDP und Grünen seinen Kanzler aussuchen. Und da wird es spannend. Zum einen sind da grüne wie liberale Erfahrungen als kleiner Partner der SPD. Die sind nur selten erfreulich. Immer wieder klagten die Grünen im Off darüber, dass sie in solchen Koalitionen herablassend behandelt würden. Scholz, der offiziell von „Augenhöhe“ erzählt, ist da keine Ausnahme. Ganz im Gegenteil gilt er als empathieloser Apparatschik. Das kann man sich als Grüner antun – aber man muss es nicht. In Hamburg denken manche Grüne immer noch nostalgisch an die gute menschliche Zusammenarbeit mit Ole von Beust zurück, die sie wegen der von Karin Prien gesteuerten Attacken gegen den erfolgreichen Bürgermeister in Sachen Schulpolitik hinwarfen.
Darin wiederum liegt die Chance Laschets. Sie sollte nicht unterschätzt werden, denn auch wenn nach außen selten dieser Eindruck erweckt wird – Koalitionen funktionieren nur, wenn deren Protagonisten miteinander funktionieren. So, wie Angela Merkel und Scholz als emotionslose Technokraten miteinander funktionierten – und eine Paarung Merkel-Schröder in der Katastrophe geendet hätte.
Wie wenig Lindner und die SPD-Führung funktionieren werden, wurde nicht nur im Wahlkampf deutlich. Allein schon die Wahrscheinlichkeit, dass FDP und Grüne den ersten Aufschlag machen werden, verführte den SPD-Halbvorsitzenden Norbert Walter-Borjans am Morgen nach der Wahl dazu, den Graben zu den Liberalen um einige weitere Meter zu vertiefen – und dabei gleichzeitig die grünen Ressentiments wiederzubeleben. Offensichtlich von einer gewissen Panik ergriffen, ging der SPD-Mann zu dem über, was er vermutlich als Attacke versteht, wollte daher der FDP schon einmal im Vorgriff auf künftiges Geschehen unmissverständlich klarmachen, wer in der Ampel Koch und wer die Kellner sind. Herablassend bezeichnete er Lindner als „Voodoo-Zauberer“, dessen Wahlprogramm eine unsinnige Aneinanderreihung von Unsinnigkeiten sei. – Wir dürfen gewiss sein: Lindner hat es gehört und verstanden. Gehört haben es aber auch die grünen Führungsleute. Laschet darf sich für die rote Schützenhilfe bei seinem Ansinnen bedanken.
Doch Schwarz-grün-gelb?
Damit sind wir nun bei der schwarz-grün-gelben Variante. Unwidersprochen: Die Schnittmengen zwischen Grünen und SPD sind programmatisch deutlich größer als zwischen Grünen und FDP oder Union. Doch Programmatik ist etwas für Technokraten und Ideologen – nichts für Menschen mit empathischen Qualitäten.
Wir können davon ausgehen: Lindner will – und Habeck will. Hinter Habeck steht immer noch der eigentliche Kopf der Grünen – Altmaoist Jürgen Trittin. Diese beiden werden die Weichen stellen. Dabei ist Habeck für die Empathie zuständig. Kuscheln kann er – sogar mit Lindner. Mit einem am Boden zerstörten Laschet wird ihm sein Mitleid ebenfalls einen menschlichen Zugang eröffnen. Und mit einem Markus Söder? Dessen fränkisch-rauer Charme mag dem Küstenbewohner ungewöhnlich erscheinen – aber am Ende sind sich Holsteiner und Franken näher, als viele meinen. Man könnte sie als Peripheriker bezeichnen, die eher immer Randexistenzen leben mussten, als im Mittelpunkt der deutschen Länder zu stehen. Keine Frage: Söder und Habeck – das geht allemal besser zusammen als Habeck und Walter-Borjans.
SGG liegt näher als RGG
Menschlich wird es folglich zwischen SGG besser funktionieren als zwischen RGG. Wie aber sieht es aus mit den Inhalten? Ich wiederhole es: Die Diskrepanzen zwischen Gelben und Grünen sind energischer als zwischen Schwarzen und Grünen. Dagegen gleich ausgeprägt ist der Wille zur Macht. Also werden sich beide Parteiführungen irgendwie zusammenraufen. Digitales und Wirtschaft, Klima und Schwarze Null – irgendwelche Kompromisse werden sich finden lassen. Das Ergebnis wird manche Kritiker beflügeln – aber es wird ein Ergebnis sein, mit dem die grüne und die gelbe Basis am Ende werden leben können, weil es ihnen den Weg zu Macht eröffnet.
Doch das wird nicht geschehen. Die entscheidende Frage wird lauten: Kann die grüne Führung gegen ihre linke Mehrheit eine Koalition mit Union und FDP durchsetzen? Und warum überhaupt sollte sie dieses wollen?
Strategisch geht es den Grünen unter Laschet besser
Die Antwort lautet: Ja. Sie kann es, wenn sich Trittin und Habeck einig sind. Womit wir nun beim Chefstrategen der Grünen sind. Trittin wird bereits am Wahlabend darüber nachgedacht haben, in welcher Konstellation die Zukunft der Grünen am besten gesichert ist. Und da wird es spannend.
Anders hingegen die Grünen in einer Koalition mit Schwarzen und Gelben. Haben sich die Vorturner auf Grün-Gelb geeinigt, ist schwarz die bessere Wahl vor allem für die Grünen. Denn dann sind sie es, die Misslichkeiten vor allem dem schwarzen Partner anlasten können, während sie selbst mögliche Lorbeeren in Umwelt und Klimaschutz ernten. Den einen oder anderen Kompromiss wird man seiner Basis verkaufen können, vor allem dann, wenn eine nun butterweiche Union letztlich alles abnicken muss, was ihnen von den künftigen Partnern diktiert wird.
Wie viel leichter ist es, mit einem ideologiebefreiten Laschet zu verhandeln, dessen politische Überlebenschance einzig der Einstieg in die Regierungsverantwortung ist – und wenn dieses annähernd auch für einen Söder gilt, der mit seinen bayerischen Kartätschen dem Rheinländer das Leben schwer gemacht hat und so seinen Anteil am Wahldesaster trägt?
In einer Koalition mit den Schwarzen können FDP und Grüne alles durchsetzen. Hier sind sie diejenigen, die sagen, wo es langgeht – und Laschet wird dankbar sein, dass sie ihn gerettet haben.
Wie die Weichen gestellt werden
All das wird Trittin längst durchdacht haben. Er wird sich darüber mit Habeck ins Vernehmen setzen. Sie werden gemeinsam die Aufgabe haben, den etwas beschränkten Anton Hofreiter ins Boot zu holen. Der Annalena werden sie irgendetwas zum Spielen in die Hand drücken, was sie ablenkt und glücklich macht. Und dann werden sie bei Lindner ihre wesentlichen Inhalte durchsetzen: noch mehr Windkraft und Solar, Ersetzen des klassischen Benziners durch Elektro und als Bonbon für die FDP innovative Alternativen, eine Ausstiegsperspektive für das Erdgas – und so weiter. Ein starkes Klima-Ministerium wird manchen Unmut befriedigen. Vielleicht darf Habeck sogar Finanzen – und Lindner geht doch ins Außenministerium. Oder umgekehrt. Die Union darf mitspielen und sich mit Innen, Verteidigung und den Gedöns-Ministerien (nach Schröder) zufriedengeben. Gern wird sie sich in diese Rolle fügen, wenn nur Laschet Kanzler darf.
In der Opposition geht die SPD nach Linksaußen
Sollte es so kommen, wird die SPD unweigerlich weiter und vor allem noch schneller in die linksradikale Ecke abdriften. Dann darf dort darüber nachgedacht werden, ob endlich zusammenwächst, was zusammengehört, und mit den schwächelnden Kommunisten eine Neuauflage der SED angegangen wird.
Zufrieden kann auch die AfD sein, denn eine Union, die sich unter dem inneren Zwang zur Unterwerfung unter grüne Politik weiter entkernt, wird ihr den Raum schaffen, noch mehr frustrierte Ex-Unionisten anzubinden. Sollte die Union in die Opposition müssen, wäre es nichts mit dieser Perspektive. Denn dann bewegte sich die entmerkelte Union zwangsläufig zurück zu ihren Wurzeln. Das mag zwar nicht notwendig zur Wiedereroberung der Macht führen, wird aber die Grundexistenz der Union sichern.
Insofern: Mit Jamaika wird nur die SPD ernsthafte Probleme haben. Mit der Ampel können aber selbst die Grünen nicht glücklich sein.
Die Nervosität der Scholzen und Borjans ist insofern durchaus nachzuvollziehen. Dachten sie am frühen Sonntagabend noch, ihre Schäflein ins Trockene gerettet zu haben, bekommen sie bereits tags darauf nasse Füße. Scholz wird seine Partei hart beanspruchen müssen, wenn er eine Chance aufs Kanzleramt haben will. Den Traum, dass er es ist, der die künftige Politik bestimmt, hat er allerdings schon vor Einstieg in die Sondierungen ausgeträumt. Als Kanzler wird es ihm nicht viel anders ergehen als Armin Laschet: Sie werden beide Vorturner von gelbgrünen Gnaden sein. Die Übungen allerdings bestimmen andere.