Auf einer Feier erfährt ein Arzt, dass ich noch nicht geimpft bin. Er nimmt mich beseite und sagt zu mir: „Bei der Impfung denke ich anders als Sie; ich habe über 500 Menschen geimpft und erachte sie als sicher. Aber ich leide genau wie Sie darunter, wie stark die Impfung politisiert und moralisiert wird. Aus einem medizinischen Abwägen ist eine Frage von Macht und Geld und Pseudomoral geworden. Ich bin entsetzt und angewidert. In unserem Land ist ganz gehörig etwas aus den Fugen geraten!“
Ich freue mich über diese ehrliche Aussage des Arztes und lerne: Die Welt ist mehr als schwarz und weiß, mehr als geimpft und ungeimpft.
Ein Pfarrer ruft mich an. „Meine politische Meinung kann ich in meiner Kirche nicht mehr laut sagen. In der Kirche ist der Konfirmitätsdruck noch größer als in unserer Gesellschaft. Ich muss vorsichtig sein; ich habe Familie, die ich ernähren muss. Aber in der Wahlkabine, da kann mir meine Kirche mal den Buckel runter rutschen. Da wähle ich, was ich will.“
Dieses ehrliche Bekenntnis hat mich sehr nachdenklich gemacht: In der evangelischen Kirche ist das freie Wort das größte Pfund, ja, das einzige Pfund, mit dem wir wuchern können. Was soll aus meiner Kirche werden, wenn das offene und ehrliche Wort nicht mehr möglich ist? Was soll aus meiner Kirche werden, wenn sie aus den Fugen geraten ist?
Ein iranisches Mädchen weigert sich in der Schulklasse, einen Covid-Abstrich zu machen. „Nein! Ich will das nicht. Mein Körper gehört mir.“ Das sind genau die Sätze, die allen Mädchen zwei Stunden vorher beigebracht wurden, als eine Trainerin gegen sexuellen Mißbrauch in der Klasse war. Die Lehrerin ist entsetzt: „Das kannst Du doch nicht vergleichen. Das ist bei Covid doch etwas ganz anderes.“ Weil das Mädchen bei ihrem Nein bleibt, kommt schließlich der Direktor zur Hilfe. Doch selbst im Angesicht dieser Fülle von Autorität bleibt das Kind „bockig“; darum muss das Kind sofort nach Hause. Die Mitschüler lernen eindrücklich, dass ihr Körper wohl doch nicht ihnen gehört.
Die iranische Mutter ist eine studierte kluge Frau; sie hat es gelernt, in Deutschland mit ihrem Kopftuch gegen den Strom zu schwimmen, was wohl kraftvoll auf die Tochter abgefärbt hat.
Das Kind fragt: „Ist Deutschland eine Demokratie?“ Dabei denkt sie bei Demokratie wohl weniger an eine Diktatur der Mehrheit, sondern an den demokratischen und rechtsstaatlichen Schutz von Minderheiten.
Die Mutter findet nach intensiven Überlegungen eine Lösung: Ein Testzentrum mit Spucktest, den das Kind und die Schule akzeptieren. Individualität und Solidarität können doch zusammengehen. Ich freue mich über diese beiden Frauen mit Zivilcourage; sie sind meine Helden und Mutmacher des Monats. Wir sind in Kontakt miteinander.
Corona-Deutschland treibt Menschen zusammen, die vorher eher in Distanz zueinander gelebt haben. Es entstehen ganz neue Verbindungen und Netzwerke in einer Gesellschaft, die aus den Fugen geraten ist. In einem Land mit apartheidlichen Tendenzen spüren Minderheiten, wie enorm wichtig der Zusammenhalt von denen ist, die an der politischen Überkodierung von Corona leiden, seien sie geimpft oder ungeimpft.
Anbei das Gebet der iranischen muslimischen Mutter, dem ich mich von ganzem Herzen anschließen kann, obwohl ich mit meinem christlichen Glauben ein ganz anderes Koordinatensystem habe:
„Gott, lass bitte Geduld und Standfestigkeit auf mich und meine Familie und alle anderen Menschen herab, so dass wir die Situation gemeinsam durchstehen.“