Die britische Innenministern Priti Patel weiß Zuckerbrot und Peitsche zu benutzen. Gerade hat sie vereinfachte Regeln angekündigt, die für nach Großbritannien einwandernde Spitzenfußballer und andere Geistesgrößen gelten sollen: »Wir wollen die größten Geister der Welt auf dem Gipfelpunkt ihrer Karriere anziehen, damit das Vereinigte Königreich die Nummer eins bei den führenden Vertretern im Sport, in den Künsten und Wissenschaften, im Film und in der Technologie bleibt.«
Doch zugleich will sie die Abwehr irregulärer Migranten im Ärmelkanal auf eine andere Grundlage stellen. Die Verhandlungen mit Paris treten auf der Stelle, während Patel ihr Vorhaben vorantreibt, irreguläre Migrantenboote im Ärmelkanal zurückzuweisen, beziehungsweise sie noch vor dem Eintritt in britische Gewässer in Richtung französische Küste umzulenken. Dazu werden britische Grenzschützer angeblich in »turn-around tactics« geschult – so nennt man die Technik in einer Mitteilung des Innenministeriums. Die griechischen Grenzschützer haben vermutlich schon einige Erfahrung darin. Ob die Boote auch bis an die französische Küste eskortiert werden können, ist unklar.
Patel beharrte auf ihrer Linie: Das Aufhalten der Kanalüberquerungen sei »eine absolute Priorität für das britische Volk«. Die »Geißel der illegalen Migration« und der damit verbundenen kriminellen Netzwerke bilde eine Herausforderung, die kein Land alleine bewältigen könne. Am Montag hatte Patel damit gedroht, Geldmittel in Höhe von 54,2 Millionen Pfund zurückzuhalten, die Großbritannien eigentlich überweisen wollte, damit die französische Regierung ihren Teil bei der Verhinderung illegaler Migration beiträgt.
Einwände aus Paris
Darmanin sagte in seinem Statement, dass Großbritannien sich an das internationale Recht halten müsse. Die Rettung von Menschenleben habe stets »Priorität vor Überlegungen zu Nationalität, Status und Migrationspolitik«, formulierte Darmanin etwas barock, ohne doch die eigene Verantwortlichkeit an dem Geschehen bis ins Letzte auszubuchstabieren. Eine Bindung der verabredeten britischen Zahlungen an bestimmte Ziele sei zu keinem Zeitpunkt diskutiert worden. Die Durchführung von Zurückweisungen (auch französisch »refoulement« oder englisch »pushback« genannt) werde die Beziehungen der beiden Länder aber sicher belasten.
Doch das ist Jammern vom hohen moralischen Ross. Dass Paris sich überhaupt herbeilässt und von »refoulement« spricht, wo es um das eigene Land geht, ist blamabel. Frankreich wäre also kein sicheres Land für Migranten, die versuchen, die Kanalgrenze illegal zu überschreiten? Diese Argumentation ist lachhaft und würde den Augen einer breiteren Öffentlichkeit nicht standhalten. Deshalb findet sie sich nur in den Hinterzimmern der französisch-britischen Gespräche.
Barnier: »rechtliche Souveränität zurückgewinnen«
Frankreich hat nun angeblich eine Verdoppelung seiner Einsatzkräfte an der Kanalküste zugesagt. Daneben boten die Briten den Einsatz eines Flugzeugs zur Überwachung der Lage an. Aber vielleicht haben die harten Verhandlungen zwischen London und Paris inzwischen auch eine ganz andere Folge gezeitigt:
Der EU-Veteran und ehemalige Brexit-Unterhändler, Michel Barnier, kündigte Anfang September seine Kandidatur bei den französischen Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr an. Am selben Mittwoch, an dem die Innenminister der beiden Länder die Lage am Ärmelkanal diskutierten, erklärte Barnier, dass Frankreich in Migrationsfragen seine »rechtliche Souveränität zurückgewinnen« müsse. In diesen Fragen sollte Frankreich nicht länger den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) folgen müssen. Barnier schlägt damit etwas vor, was auch in Großbritannien, wo man nur noch dem EGMR formal eine gewisse Gefolgschaft schuldet, diskutiert wird.
Daneben will Barnier ein Referendum zum Thema Einwanderung durchführen und fordert ein Einwanderungsmoratorium von drei bis fünf Jahren für Frankreich. Dazu brauche es eine Verfassungsänderung, damit ein diesbezügliches Gesetz nicht unter Verweis auf internationale Verpflichtungen gekippt werden könne.
Realitätsschock in Frankreich
Der AfD-Europaabgeordnete Gunnar Beck zeigte sich erfreut, dass Barnier die Positionen seiner Partei übernimmt, die so realitätsfern also nicht sein könnten: »Besser spät als nie!«
Womöglich erleben Barnier und andere Franzosen derzeit einen Realitätsschock, nicht nur am Ärmelkanal bei den Verhandlungen mit den widerspenstigen Briten. Vor allem sind die südlichen Grenzen des Landes seit langem schlecht beschützt. Macron bezeichnete sein Land gar unlängst als Zielland Nr. 1 für die Sekundärmigration in Europa, und zwar ausgerechnet im Interview mit dem griechischen Fernsehen zum zweihundertjährigen Jubiläum des griechischen Unabhängigkeitskampfes. Doch diesen Rang dürfte derzeit tatsächlich Deutschland innehaben.