Tichys Einblick
Deutschland wieder Wunschland

Schon hunderte Asylbewerber über die Belarus-Route in Deutschland

In Litauen sind seit Anfang des Jahres über 4.000 illegale Migranten meist irakischer Herkunft angekommen. Ihr Ziel war immer ein anderes. Nun haben die ersten Deutschland erreicht. Doch die Regierenden ignorieren die Vorgänge – ebenso wie die illegale Zuwanderung in die EU überhaupt.

Polnische Grenzschützer mit afghanischen Zuwanderern an der Grenze zu Weißrussland, 25.08.2021

IMAGO / newspix

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die deutschen Sicherheits- und Asylbehörden die Auswirkungen der litauisch-weißrussischen Migrationskrise spüren würden. Nachdem Litauen im Frühsommer für kurze Zeit von der Lage an seinen Grenzen überfordert wurde und gut 4.000 irreguläre Migranten in das Land eindringen konnten, kommen nun die ersten von ihnen – meistenteils Iraker – in Deutschland an. Die Bundesrepublik war, wie bald klar wurde, von Beginn an ihr hauptsächliches Zielland.

In einem Analysepapier der deutschen Sicherheitsbehörden, das der Tageszeitung Welt vorliegt, ist nun in der Tat von einem »Anstieg festgestellter unerlaubter Grenzübertritte von Migranten« die Rede, die aus Belarus zunächst nach Litauen und Polen, dann nach Deutschland gelangt sind. 250 Einwanderer, fast ausschließlich Iraker, seien inzwischen »unerlaubt gereist« oder eingeschleust worden, so das offizielle deutsche Papier.

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Die Polizei Sachsen griff am 17. August »nach mehreren Bürgerhinweisen insgesamt 15 irakische Staatsangehörige ohne aufenthaltslegitimierende Dokumente an der deutsch-polnischen Grenze« auf: »Alle Geschleusten äußerten ein Asylgesuch.« Eine Rücküberstellung in das Land, das eigentlich für ihre Aufnahme und einen Asylantrag zuständig ist (in diesem Fall die östlichen EU-Nachbarn), ist in Deutschland unüblich. Die meisten der nach Deutschland eingeschleusten Migranten sollen im Besitz ihrer Reisepässe sein. Andere behaupten, die Dokumente seien ihnen von Schleusern oder litauischen Behörden abgenommen worden. Aber man fand auch in die Kleidung eingenähte irakische Reisepässe.
In Deutschland beschweigen die Parteien das Thema

Einige Migranten berichten davon, dass sie, nach überschrittener Grenze, für einen kurzen Film posieren und die Worte »I am in Germany« sagen sollten. Andere sollten ein Selfie von sich im Zielland ihrer Wünsche verschicken, vermutlich um die Schleusungskosten bei den Verwandten einzutreiben. Diese Kosten (vom Herkunftsland über Belarus bis nach Deutschland) werden von Frontex auf jeweils 3.300 bis 15.000 Euro geschätzt. Daneben senden die Bilder aber natürlich auch Erfolgssignale aus Deutschland in die alte Heimat.

Schon heute ist Deutschland das Land mit den meisten irakischen Staatsbürgern in der EU. 2020 und 2021 wurden jeweils um die 60 Prozent der EU-Asylanträge von Irakern in der Bundesrepublik gestellt – verständlich, man wohnt ja lieber in der Nähe von Verwandten und Landsleuten. Über 220.000 Iraker gibt es heute laut Welt im Land, also etwa jene Mittelstadt von Asylbewerbern, die die aktuelle Regierung laut Koalitionsvertrag jedes Jahr aufnehmen will.

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Nach Frontex-Schätzungen sitzen trotz einigen organisierten Rückflügen noch immer mehrere tausend Iraker in Weißrussland fest. Neben Litauen ist auch Polen von irregulären Einreiseversuchen betroffen, schloss die Grenzen aber ebenso rigoros wie inzwischen die litauische Regierung. Auf Vorschlag des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg entsandte Polen einen Hilfskonvoi in die Grenzregion, der aber von weißrussischen Kräften umgehend blockiert wurde. Das hätte man sich vorher denken können. Doch dieses Tugendsignal brauchte es wohl, um »Europäer« zu bleiben.
Eine Lage, die uns über kurz oder lang unmittelbar betrifft

Und auch wenn die Flugverbindung nach Bagdad abgebrochen ist, kommen Flüge aus Istanbul täglich in Minsk an. Daneben wird Lukaschenka nachgesagt, mit mehreren islamischen Ländern zu verhandeln, um weitere »Flüchtlingskontingente« in sein Land zu locken. Litauen und Polen erleben gerade einen Vorgeschmack jenes Dramas, das Italien, Spanien und Griechenland seit Jahren durchleben.

Es ist daher kein Wunder, dass in allen diesen Ländern die Themen Grenzsicherheit und illegale Einwanderung für teils hitzige Diskussionen sorgen. Doch im bundesdeutschen Wahlkampf spielen beide Themen so gut wie keine Rolle. Fast alle größeren Parteien meiden das Thema wie der Teufel das Weihwasser. Die einzige Ausnahme ist die AfD, die die Zurückweisung illegaler Einwanderer an der Grenze fordert und daneben viele Hindernisse für die Einwanderung über das Asylsystem errichten will. Dagegen spricht die FDP zwar gern von einer »gesteuerten« Zuwanderung von »Fachkräften«, doch nicht von ihrem Gegenteil. Zuletzt stellte Friedrich Merz (CDU) die Grünen im Focus als besonders große »Einlader« von schlecht zu integrierenden Migranten dar, aber auch er sagt nicht, wie man es besser machen könnte. 

Ebenso wie Merz schweigen sich die Kanzlerkandidaten Laschet und Scholz zu der großen Frage aus: Wie soll man mit der Lage an den EU-Außengrenzen umgehen, die Deutschland unmittelbar betrifft? Die Grünen reden da manchmal unverblümter, aber nachdem Annalena Baerbock vor vier Wochen ein Einwanderungsministerium forderte (das Innenministerium wäre dann nicht mehr für diesen Bereich zuständig), schweigt auch sie nun wieder und beweist so die höchste Eloquenz, deren sie fähig ist. Sie muss auch gar nichts sagen, es steht ja alles im Wahlprogramm der Grünen: »Einbürgerung erleichtern«, »Mehrstaatigkeit anerkennen«, auch eine Ausweitung der Asylgründe soll kommen, »Raus aus der Duldung« heißt eine andere Überschrift mit ausführlichen Handlungsanweisungen.

Duell der Großthemen um Aufmerksamkeit

Dagegen sehen die Deutschen – soweit sie dazu befragt werden – das Thema Zuwanderung, bei dem es im Kern um die Einwanderung via Asyl geht, seit Jahren als eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste politische Thema an. Das zeigte zum Beispiel eine INSA-Umfrage vom Juli 2018,  als fast zwei Drittel der Befragten den Themenkomplex »Zuwanderung, Migration, Flüchtlinge« für das wichtigste Thema hielten. Und man könnte so ein Gefühl haben, dass die Befragten sich nicht noch mehr von dem erhoffen, was vor allem die Grünen offensiv vertreten.

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Zieht man die Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen (ZDF) zu Rate, dann haben sich seit 2018 zwei Themen am Migrationsthema vorbeigeschoben. Im ersten Halbjahr 2019 steigerte sich relativ plötzlich das Thema »Umwelt/Klima/Energiewende« und überflügelte so den abflachenden Graphen des Themas »Ausländer/Integration/Flüchtlinge«. Man kann das als mediales Phänomen ansehen, ähnlich wie die beinahe totale Konzentration auf das Thema Corona im letzten Jahr. Dazu passt ein weiterer Befund: Im selben Maße, wie die Bedeutung des Themas Corona derzeit aus Sicht der Befragten abnimmt, steigert sich die wahrgenommene Wichtigkeit des Umwelt- bzw. Klimathemas. Es sind symmetrische Kurven, kommunizierende Röhren, die denselben Bedarf decken.

Dabei ist das Thema Zuwanderung das einzige unter den drei Großthemen, zu dem wir also jede Menge solide Zahlen und Erkenntnisse besitzen, während Corona und Klima sich weitgehend als schlimme Erwartungen über Wasser halten müssen. Nur die Auswechslung der Themen Corona und Klima kann derzeit sicherstellen, dass nicht stärker über die Zuwanderung und Integration von irregulären Migranten diskutiert wird. 

SPD, CDU, SED – alle wollen den Flüchtlings-»Korridor«

Grund dazu besteht sehr wohl. Denn nach dem pandemiebedingten Rückgang der irregulären Einwanderung in die Bundesrepublik im letzten Jahr (mit immer noch über 100.000 Asylanträgen) erhöht sich der Zufluss derzeit merklich. In diesem Jahr wurden bis einschließlich Juli bereits 72.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. Unbedeutend sind demgegenüber die Abschiebungen und freiwilligen Ausreisen abgelehnter Asylbewerber, wie sie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke (Linke) angibt. 

Im ersten Halbjahr 2021 wurden demnach 7.360 Ausländer abgeschoben, während 4.374 abgelehnte Asylbewerber freiwillig ausreisten. Diese Zahlen entsprechen natürlich nicht dem Verhältnis von angenommenen und abgelehnten Asylanträgen. Schreibt man sie undynamisch fort, so ergibt sich für das laufende Jahr eine Zahl von etwa 120.000 Asylanträgen und etwas über 23.000 Rückreisen. Da die Tendenz der Ankünfte aber ansteigt, könnte die Marke von 120.000 Anträgen auch deutlich überschritten werden.

Die Linken-Abgeordnete Jelpke beklagt derweil laut Tagesschau, dass das Koalitionsziel von »180.000 bis 220.000 Personen« pro Jahr nicht erreicht werde. Man erinnert sich an die Zahl von 200.000 Asylbewerbern, die angeblich jedes Jahr verkraftbar sein sollte. Horst Seehofer hatte sie einst als Obergrenze ins Spiel gebracht, im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD wurde sie zum »Korridor für die jährliche Zuwanderung«, die Bundestagsabgeordnete der Linkspartei macht ein zu erfüllendes Plansoll daraus. Aber etwas Ähnliches legt auch der schwarz-rote Begriff »Korridor« nahe. Man sieht, die einst großen Parteien der Bundesrepublik unterscheiden sich an dieser Stelle kaum von der umbenannten SED. Jelpke bemerkt freilich, die von Seehofer »gezogene Obergrenze« sei »willkürlich« gewählt. Hat sie eine bessere Zahl zur Hand? Wieviele dürften es sein, wenn die flüchtlingspolitische Sprecherin Ulla Jelpke – vielleicht ja als erste deutsche Einwanderungsministerin unter einem Kanzler Scholz – mehr zu sagen hätte?

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